Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden! Sie suchen mich täglich und begehren, meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe. »Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst's nicht wissen?« - Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter.
Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat?
Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen, und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
Liebe Gemeindeglieder,
liebe Schwestern und Brüder in Christus,
heute ist Faschingssonntag, Höhepunkt des Faschingstreibens. An vielen Orten gibt es heute Umzüge, man maskiert oder verkleidet sich, ist ausgelassen und fröhlich. In zwei Tagen, am Faschingsdienstag, ist dann um Mitternacht alles vorbei. Wir stürzen von der Gaudizeit in die Fastenzeit hinein. Womit ich jetzt versucht habe, elegant den Bogen vom heutigen Faschingssonntag zum heutigen Predigttext zu spannen. Darin geht es nicht um närrisches Treiben, sondern ums Fasten.
Fasten ist ja groß in Mode. Fasten, weil wir alle irgendwie zu viele Kilos auf die Waage bringen. Fasten, weil es den Körper entschlackt. Viele fasten in der Zeit vor Ostern, weil sie freiwillig Verzicht leisten wollen auf etwas, was ihr Leben bestimmt oder beherrscht – oder sagen wir mal, ziemlich im Griff hat.
Die einen machen Fernsehfasten, indem die Kiste bis Ostern ausbleibt, andere essen keine Schokolade und meiden den Alkohol. Ich faste, esse keine Süßigkeiten und am Abend nur Obst. Warum machen wir das? Na ja, ich hoffe, dass ich nach den sechs Wochen fünf Kilogramm leichter bin. Das ist eine hohe Motivation. Und so hat jeder sein eigenes Ding, das er sich und den anderen durch sein Fasten in der Fastenzeit zeigen und beweisen will.
Jetzt könnte ich die Frage stellen, ob das den lieben Gott überhaupt interessiert? Ob ich durch mein Fasten bei ihm Pluspunkte holen kann? Kann ich mit ihm vielleicht ein Geschäft machen? Ich faste und Gott hört mich, schenkt mir sein Heil? Wäre das nicht etwas, was unserer Beziehung zu Gott entgegenkäme? Wäre es nicht gerecht, wenn Gott unser Fasten belohnen würde, denn das Fasten fordert schließlich ja auch etwas von uns ab? Es ist schließlich nicht einfach zu hungern oder Gewohnheiten sein zu lassen, die uns eine Menge bedeuten.
Was antwortet uns Jesaja auf diese Gedanken? Er antwortet mit Wenn und Dann. Gerade so, wie Eltern es tun, wenn sie ihre Kinder erziehen: „Wenn du brav bist, ja, dann werde ich’s mir noch mal überlegen.“ Jesaja richtet uns von Gott aus: „Wenn du dich anderen nicht entziehst, dann wird dein Licht wie eine Morgenröte hervorberechen, dann wird dir Gott antworten. Wenn du Unterdrückung, Verleumdung, Hunger abschaffst, dann wird dein Licht hervorleuchten.“
Natürlich können wir auf dieses „Wenn“ und „Dann“ mit der Rechtfertigungslehre kontern. Denn im Augsburger Bekenntnis von 1530 lesen wir: „Weiter wird gelehrt, dass wir Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit vor Gott nicht durch unser Verdienst, Werk und Genugtun erlangen können, sondern dass wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnaden, um Christi willen, durch den Glauben, wenn wir glauben, dass Christus für uns gelitten hat, und dass uns um seinetwillen die Sünde vergeben und Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird.[1]
„Allein aus Gnade, allein um Christi willen, allein durch den Glauben,“ wird uns unsere Schuld vergeben, das ist die reformatorische Erkenntnis Luthers. In dieser Erkenntnis hat das „wenn“ – „dann“ des Jesaja keinen Platz. Also müssen wir weiterfragen. Wir müssen fragen, welche Bedeutung meine Rechtfertigung vor Gott für mich hat – wie sie zu verstehen ist. Wir können darüber im Evangelischen Erwachsenenkatechismus lesen:
Jeder Mensch lebt unter Bedingungen, die er selbst nicht gesetzt hat. Dass ich zu dieser Zeit, an diesem Ort geboren bin, dass ich diese und keine anderen Eltern habe, dass ich Mann oder Frau bin, dass ich bestimmte Fähigkeiten habe und andere wieder nicht ‑ dies. alles sind Lebensbedingungen die ich mir nicht ausgesucht habe, über die ich folglich auch nicht verfügen kann. Ebenso ist es mit der Zukunft: keiner hat sie in der Hand, keiner weiß genau, welche Folgen sein Handeln hat, jeder geht dem Tod entgegen. Es gibt sehr verschiedene Möglichkeiten, mit diesen Bedingungen fertig zu werden: Ich kann gegen sie hadern, vor ihnen den Mut verlieren und resignieren oder mich ihnen bewusst aussetzen und sie anerkennen. Letzteres ist die Haltung des Glaubenden. Er spürt hinter den Bedingungen des Daseins eine Macht, über die er nicht verfügen kann, die vielmehr über ihn verfügt: Gott.
Wie kann der Mensch fähig werden, die Bedingungen des Daseins anzunehmen? Nur dadurch, dass er selbst von anderen angenommen wird. Tiefenpsychologische Forschungen haben erwiesen, dass das Verlangen nach Anerkennung zum Wesen des Menschen gehört. Der Mensch braucht eine Gemeinschaft, in der er angenommen ist und in seinem Wert bestätigt wird. Besonders wichtig sind hierfür die ersten Lebensjahre. Nur wer diese Annahme durch andere erfährt, kann zu sich selbst finden (Identität). Früher konnte der Mensch diese Bestätigung finden, wenn er sich mit den überlieferten Normen und Regeln identifizierte. Er wusste sich dann mit der großen Gemeinschaft in Übereinstimmung und von ihr getragen. Das ist heute weithin anders geworden. Je weniger der Mensch die Anerkennung durch Institutionen erfährt, desto nötiger braucht er die Bestätigung durch andere Menschen. So ist er in der Tiefe seines Wesens auf der Suche nach Annahme und Anerkennung ohne Vorbehalt, nach Verständnis und Vergebung.
Nur liebevolle Zuwendung kann den Ring der Selbstverteidigung, den der Mensch aus Angst und Misstrauen um sich aufbaut, öffnen.
Wo kann er sie finden? Die christliche Verkündigung verweist auf Christus, der den Menschen annimmt, wie er ist. Es reicht aber nicht aus, dies nur zu sagen; der Mensch muss es erfahren, indem er in eine Gemeinschaft hineingenommen wird, die ihn annimmt und anerkennt. Die christliche Gemeinde soll ein solcher Raum des gegenseitigen Annehmens sein. Gottes Zuwendung wird durch die Gemeinschaft der Glaubenden, also durch Menschen vermittelt (Röm 15,7). Ich erhalte dadurch aber auch Kraft, mich in Situationen, wo ich auf Liebe von Menschen verzichten muss, ganz auf Gott zu verlassen.
Wer stillt unsere Sehnsucht nach Liebe und Freiheit? Der christliche Glaube antwortet: Gott tut es, weil er uns bejaht und in seine Gemeinschaft aufnimmt, weil er uns liebt. Wer sich so angenommen weiß, hat Boden unter den Füßen. Er kann frei werden von der ständigen Sorge um sich selbst, vom Zwang, immer der Mittelpunkt sein zu müssen, und der Angst, ob er wichtig und wertvoll ist. Wer erfährt, dass er von Gott beschenkt wird, wird freier, unabhängiger von dem, was er gut oder falsch gemacht hat. Er hat es nicht nötig, sich selbst und den anderen etwas vorzumachen. Er kann sich sehen, wie er ist. Wer sich Gottes rechtfertigendes Wort sagen lässt, kann frei werden von Urteilen und Meinungen der Menschen und dem, was er von sich selbst weiß. Die Geborgenheit, die der Mensch bei Gott findet, kann ihn zu einem verantwortlichen Leben aus Freiheit befähigen, verantwortlich vor Gott und den Menschen, mit denen er zusammen lebt.[2]
Und damit sind wir genau wieder bei Jesaja, der uns sagt: Dein ganzes Fasten hilft nichts, wenn du Gott nicht in der Nähe der Kranken, Sklaven und Notleidenden vermutest. Du kannst dich im Fasten in dich versenken, die selbst kasteien und quälen – aber Gott wird nicht hören. Gott hört da, wo wir den anderen hereinnehmen in unsere Gemeinschaft, damit er es erfahren darf: ich bin angenommen und anerkannt. Er wird sich nichts mehr vormachen müssen, keine Masken und Verkleidungen mehr tragen müssen, weil er weiß: Ich darf so sein wie ich bin – und ich darf hinsehen wie ich bin, weil Gott mich rechtfertigt und annimmt: „Allein aus Gnade, allein um Christi willen, allein durch den Glauben,“ und nicht weil ich eine fromme Rolle spiele oder anderen nach dem Mund rede.
Die reumütige Innenschau des Fastenden sieht das was in seiner Umgebung notwendig ist nicht – nur seine Schuld, sein Versagen, seine Reue. – Auch er darf sich von Gott rechtfertigen lassen und den Schritt tun, den Jesaja von uns fordert: Taten der Barmherzigkeit. Sie sind keine guten Werke, sondern das, was wir dem anderen schulden. Amen.