18.10.2007

Unser Sonntag - ein Geschenk?

Meine Predigt für den kommenden Sonntag Markus 2, 23-28


Rabbi Ovadia Josef, der geistige Mentor der einflussreichen Schas-Partei in Israel, hat in einem neuen Erlass das Nasebohren am heiligen jüdischen Sabbat verboten. Josefs Entscheid war in einer Predigt von ihm enthalten, die Samstagabend in Israel und der jüdischen Welt über Satellit verbreitet wurde, berichtete am Sonntag die Zeitung Yediot Aharonot. Laut Josef verletzt das Nasebohren strenge Sabbat-Gesetze, weil dabei versehentlich dünne Haare aus den Nasenlöchern herausgerissen werden könnten. Dadurch würde gegen das Sabbat-Verbot verstoßen, sich in irgendeiner Weise die Haare zu schneiden. Die religiöse Schas-Partei hält im israelischen Parlament zehn Sitze.[1]


Deutsche Tugenden

Fast sind wir gewillt, uns über den Nasebohren-Erlass des Rabbi Ovadia Josef lustig zu machen und ihn mit einer abwertenden Bemerkung abzutun. Aber sind wir denn viel besser mit unseren Gesetzlichkeiten, die es überall unter uns gibt? Ich denke da zum Beispiel an die Deutschen Tugenden: Ordnungssinn, Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein, Treue, Redlichkeit, Bescheidenheit, Gottesfurcht. Wir sehen solche Tugenden, oder sollte ich sagen, solche deutsche Gesetzlichkeiten als Garant unseres Erfolgs an: Disziplin, Gehorsam, Pflichterfüllung. Das geht weit in die Vorstandsetagen unserer großen Unternehmen hinein. So fordert der Vorstandschef der Deutschen Telekom Kai-Uwe Ricke mit klaren und deutlichen Worten, sich auf die deutschen Werte zu besinnen: Mut, Entschlossenheit, Wahrheit, harte Arbeit. Deutsche Tugenden, deutsche Werte, deutsche Erfolgsgesetze in Variationen.


Das tut man nicht

Dabei habe ich noch gar nicht über die „Gesetze“ gesprochen, die wir uns in unseren Familien, in unseren christlichen Gemeinden und im Zusammenleben gegeben haben. „Das tut man nicht“, wer kennt nicht diesen Ausspruch? Ein paar dieser „das tut man nicht“-Gesetze fallen mir auf Anhieb ein: Wer Christ sein will, der geht Sonntag zum Gottesdienst – Ein Christ lässt sich nicht scheiden – Ein Christ hat vor der Ehe keinen Sex und meidet die Selbstbefriedigung – Ein Christ hat keinen Streit und sagt immer die Wahrheit – Ein Christ ist zuverlässig und pünktlich, er ist immer sanft und liebevoll. Vielleicht würden wir gerne auch festlegen, welche Gedanken am besten nicht gedacht werden.


Im Erfinden von gesetzlichen Bestimmungen und Forderungen sind wir Menschen wirklich gut. Warum tun wir das? Warum versuchen wir den anderen und oft genug auch uns einzuschränken, auf „Linie“ zu bringen? Ich stelle die Behauptung auf: Je autoritärer und menschenverachtender ein System ist, je mehr es von Angst und überbeschützender Sorge bestimmt ist, um so mehr greift es in die Freiheit der Menschen ein. Dabei kann es sehr kleinlich zugehen. Das können wir erleben, wenn eine christliche Gemeinde bestimmte Fragestellungen nicht mehr zulassen will, wenn in Familien bestimmte Themen tabu sind und über sie nicht gesprochen werden darf. Wir können das sehen, wenn vor lauter „Fürsorge“ ein ganz enger Rahmen festlegt wird, in dem Glaube gelebt werden darf. Was darüber hinausgeht, wird mit dem Urteil abgetan: „Ein Christ kann so etwas nicht glauben!“ Und so hört dann ein Christ bestimmte Musik nicht, Zigaretten und Alkohol sind verboten nach dem Motto: „Ein Christ raucht und trinkt nicht“. Am Ende wird bestimmt welche Theologie die Richtige ist, es wird darauf geachtet, ob der Pfarrer „gläubig“ ist und man beginnt jeden Menschen unter dem Gesichtspunkt anzusehen, ob er wohl ein „gläubiger Christ“ ist. Sich gegenseitig den christlichen Glauben abzusprechen, ist dann der Höhepunkt solcher gegenseitiger Verurteilungen.


Skandal mit den Jüngern

Jesus war mit seinen Jüngern am Sabbat unterwegs. Dabei kam es zum Skandal. Aber hören wir selbst, was vorgefallen war. Der Predigttext steht bei Markus im 2. Kapitel:

Es begab sich, daß Jesus am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.[2]

Die Jünger gehen durch das Feld und streifen beim Hindurchgehen die Körner ab, zerreiben sie und essen sie. Sie waren hungrig. Es war nicht die Lust am mutwilligen Übertreten einer unnötigen Regel. Nach dem Alten Testament muss die Ernte am Sabbat ruhen. Natürlich müssen Gottes Gebote gehalten werden. Aber sie brechen das Gesetz, weil ihnen der Magen knurrt. Sie wissen, dass sie ein wichtiges Gebot übertreten. Nur im Notfall darf ein Gesetz übertreten werden.

Kleinkariert, denke ich. Kleinkariert, diese Pharisäer. So ein Aufstand wegen ein paar ausgeraufter Ähren. Das ist doch nicht der Rede wert. Gesetzlichkeit hat immer das Gewand des kleinkarierten an.


Das muss jeder doch selbst wissen ...

Wir haben da in unserer säkularisierten Welt schon ganz andere Probleme. Bei uns steht immer öfter und immer massiver der Sonntag als Ruhetag für alle zur Disposition. Firmen möchten den Sonntag als Ruhetag abschaffen, weil die teuren Maschinen auch am Sonntag laufen sollen, und damit besser ausgelastet werden können. Kaufhäuser wollen ihre Türen auch am Sonntag offen halten, weil dann an sieben Tagen in der Woche die Kassen klingeln und nicht nur an sechs Tagen. Es wird einfach nicht mehr die Notwendigkeit eingesehen, dass es einen allgemeinen Ruhetag in unserer Gesellschaft geben soll. Das muss doch jeder selbst wissen, ob er Ruhe braucht und jede Woche einen Ruhetag will, oder ob er einmal im Monat mit einem Kurzurlaub zurecht kommt: Vier Wochen Arbeiten, anschließend acht Tage frei. Das muss doch jeder selbst wissen, wie seine Bedürfnisse sind.


Jesus verteidigt seine Jünger gegen ein Gesetz, das nicht den Menschen im Mittelpunkt hat, sondern um des Gesetzes willen durchgesetzt werden soll. Ein Gesetz, das sehr den Anschein von Rechthaberei erfüllt. Wie ein guter Anwalt weist Jesus auf einen Präzedenzfall für das Jüngerverhalten hin und wirft den Pharisäern Schriftunkenntnis und Schiftunverständnis vor. Sie lesen die Schrift so, als sei der Mensch für den Sabbat geschaffen. Aber es ist umgekehrt, der Sabbat ist für den Menschen geschaffen und hat somit nicht bestimmende, sondern dienende Funktion.


Der Sabbat dient dem Menschen, darum ist es nicht gleichgültig, wie der Mensch den Sabbat verbringt, was er an dem von Gott geschenkten freien Tag tut und lässt. Der Sabbat ist Gottes Geschenk an uns. Gott hat es so eingerichtet, dass nach Tagen der Arbeit Zeit der Ruhe ist. Der christliche Sonntag, der seinen Ursprung im jüdischen Sabbat hat, unterbricht die Kette der Schlussfolgerungen und Sachzwänge, die Fließbänder der Produktionsoptimierung und ermöglicht Nachdenken, Berichtigung und Neuanfang. Es ist Pause. Ich denke wir Menschen brauchen so eine gemeinsame Pause, ein gemeinsames Nachdenken, sich besinnen auf das, was in unserem Leben trägt. Wir brauchen es, dass wir Zeit füreinander haben, Gemeinschaft leben können. An diesem Tag der Pause brauchen wir nicht die Ablenkung durch den Konsum und die Betriebsamkeit, der wir die ganze Woche und alle anderen Tage unseres Lebens ausgesetzt sind. Einen Tag in der Woche, der Ruhe signalisiert, der nicht wie alle Tage ist. Einen Tag in der Woche, wo das Leben den Atem anhält, zur Besinnung kommt, abschließt was gewesen ist und erst am nächsten Tag neu beginnt – eine neue Woche, neue Herausforderungen, neue Aufgaben.


Gottes Geschenk

Gott hat das Geschenk seines Ruhetages nicht in das Belieben der Menschen gestellt. Er weiß, dass der Mensch nach sechs Tagen diesen Ruhetag braucht. Er hat es so eingerichtet, dass der Mensch um psychisch und physisch gesund zu bleiben diesen Rhythmus von Arbeit und Ruhe braucht. Gott hat den Menschen so geschaffen, dass er die menschliche Gemeinschaft braucht um stabil und tragfähig zu bleiben, Tage gemeinsamer Feier und Freizeit, Menschen, um menschlich zu bleiben. Den Sonntag zu feiern ist Ausdruck der Freiheit des Menschen. Gott will nicht, dass wir Sklaven unserer Arbeit sind. Auch nicht die Sklaven der Wirtschaft und des wirtschaftlichen Erfolges, der Maschinenlaufzeiten und der klingenden Kaufhaufkassen.


Der Sabbat ist aus der Verfügbarkeit des Menschen herausgenommen, weil er von Gott geschaffen und geschenkt ist. Gott hat es nicht so eingerichtet, dass jeder Mensch seinen Ruhetag nimmt, wie er es möchte. „Sechs Tage sollst du arbeiten; am siebenten Tage sollst du ruhen, auch in der Zeit des Pflügens und des Erntens.“[3] Gott will, dass wir alle eine gemeinsame Zeit der Ruhe einhalten, damit es wirklich ein Ruhetag wird, der sich aus dem Getriebe der Woche heraushebt und einen ganz anderen Schwerpunkt hat.


Heute erstickt der Sabbat, bzw. der Sonntag nicht an festgelegten Verhaltensregeln, sondern er verliert seine Konturen, weil solche Regeln nicht mehr für nötig erachtet werden. Es geht nicht darum ein neues Regelkorsett für den Sonntag zu erschaffen. Das kann angesichts der religiösen Vielfalt unserer Gesellschaft gar nicht gelingen und muss auch nicht versucht werden. Solche Regeln vermögen den Sonntag nicht zu schützen. Jeder muss selbst wissen, wie seine persönliche Verbindlichkeit aussieht.


Wenn Christen den Sonntag so feiern, wie ihn Gott den Menschen geschenkt hat, provozieren sie heutige Zeitgenossen. Eine Sonntagspraxis, die auf persönlicher Verbindlichkeit beruht, strahlt aus und wirkt auf die Umwelt. Wer auf die Freiheit verzichtet am Sonntag zu arbeiten und einzukaufen, erlebt die Freiheit auszusteigen aus der Gleichförmigkeit der Tage und er kann neue Anfänge setzen. Wer hingegen jeden Sonntag durcharbeitet, wer den Sonntag zu einem normalen Handelstag machen möchte, zerstört diese Erlebnismöglichkeiten.


Leben, einfach nur leben

Der 1980 verstorbene jüdische Psychologe und Professor für Psychoanalyse Erich Fromm schreibt: „Am Sabbat lebt der Mensch, als hätte er nichts, als verfolgte er kein Ziel außer zu sein, das heißt seine wesentlichen Kräfte auszuüben - beten, studieren, essen, trinken, singen, lieben. Der Sabbat ist ein Tag der Freude, weil der Mensch an diesem Tag ganz er selbst ist. Das ist der Grund, warum der Talmud den Sabbat die Vorwegnahme der Messianischen Zeit nennt und die Messianische Zeit den nie endenden Sabbat; der Tag, an dem Besitz und Geld ebenso tabu sind wie Kummer und Traurigkeit, ein Tag, an dem die Zeit besiegt ist und ausschließlich das Sein herrscht."

Der Sabbat soll uns zeigen was Leben ist. Was brauchen wir? Die Ähren und das Brot - und die Freiheit und die Hoffnung. Amen.



[1] Quelle unbekannt

[2] Markus 2, 23-28

[3] 2.Mose 34,21

14.10.2007

Hausbesuch: Notfallseelsorge

Mit TimeSystem und Computer
Andreas Stahl sorgt für die Erreichbarkeit kirchlicher Seelsorge

Inzwischen kann man in der Presse in den Polizeiberichten immer wieder lesen, dass nach einem Unfall, Brand oder anderen Unglücksfällen, Notfallseelsorger vor Ort waren, die sich um Angehörige oder Betroffene gekümmert haben. Notfallseelsorge wird zum Begriff, sie etabliert sich immer mehr im Angebot der Hilfsdienste.

Als ich die zwei Stockwerke zur Wohnung von Bruder Andreas Stahl, in der Pirckheimer Straße in Nürnberg, hinaufstieg, erwartete ich einen mit allen Wassern gewaschenen Seelsorger, der mit plötzlichem Leid und Tod umgehen kann. Meine Vorstellungen orientierten sich an der eigenen Notfallseelsorgepraxis: Nachts unterwegs sein, Straßen und Hausnummern suchen, mit geschockten Menschen sprechen, einfach da sein. Zu Unfällen gerufen werden, wo einen das Grauen zu packen beginnt und die eigene Hilflosigkeit zu übermannen droht. Bei Eltern ausharren, deren toter Säugling auf dem Tisch liegt. Die vielen ausgesprochenen und unausgesprochenen Fragen aushalten, die Fragen nach dem Warum und Wozu. Die eigene Wut darüber, warum Gott so etwas zulässt. - Mit diesen Gedanken stieg ich die Treppen hinauf und war irgendwie erstaunt, als mich oben ein freundlich-fröhlicher junger Mann begrüßte, dem der tägliche Umgang mit schwersten Leid nicht auf dem ersten Blick abzuspüren ist.

Er führte mich in sein Büro, das in seiner Wohnung untergebracht ist. Schreibtisch, Bücherregal, Telefon, PC, Drucker und TimeSystem waren als Arbeitsmittel vorhanden. Am meisten verwunderte mich das TimeSystem, das ja eher als ein Hilfsmittel für Manager Verwendung findet. Aber das beantwortete sich später von selbst.

Erfahrungen als Rettungssanitäter

Seit Juni diesen Jahres hat Bruder Stahl eine landeskirchliche Projektstelle für Notfallseelsorge inne. Inhaltlich geht es darum, Fortbildung für Notfallseelsorger im Kirchenkreis Nürnberg zu organisieren und die Möglichkeiten zu klären, für Seelsorge am Nürnberger Flughafen. Diese Stelle war als Pfarrstelle gedacht, aber sie ging an Andreas Stahl. Und das kam nicht von ungefähr, denn er ist in der Notfallseelsorge im Nürnberger Raum seit Jahren kein unbeschriebenes Blatt mehr. Neben der 0,5 Stelle Jugendarbeit im Maxfeld, war er seit 2002 bereits mit einer halben Stelle im Evang.-Luth. Dekanatsbezirk Nürnberg als Beauftragter für Notfallseelsorge angestellt. „Mir kam dabei sehr meine Erfahrung als Rettungssanitäter zugute“, meinte Andreas Stahl, „denn ich lernte dort professionell mit schwersten Krisensituationen umzugehen.“ Schon vor seiner Rummelsberger Zeit, als er noch bei der Bundesbahn als Elektriker arbeitete und nebenbei Jugendarbeit in Weiden machte, fuhr er als Rettungssanitäter in seiner Heimatstadt. „Seit 1991 fahre ich immer noch einmal im Monat am Freitag in Weiden Nachtschicht als Rettungssanitäter. Das hilft mir fit zu bleiben und in meinem Hauptberuf eine andere Sicht der Dinge zu behalten“, lächelnd fügt er hinzu „und im Übrigen kann ich da auch gleich mein Patenkind besuchen.“

Als in Röthenbach/Pegnitz vom Roten Kreuz 1998 die Anfrage nach Notfallseelsorgern kam, war er bereit dort mitzumachen, allerdings nur unter der Bedingung, dass er die 5-tägige Weiterbildung machen dürfe. Er sieht für diese den ganzen Menschen fordernde Arbeit, solch eine Weiterbildung als unerlässliche Voraussetzung an. So kam er zur Notfallseelsorge.

Erreichbarkeit kirchlicher Seelsorge sicherstellen

In seinem jetzigen Dienstauftrag sieht sich Andreas Stahl in erster Linie nicht als der Notfallseelsorger, der von Unfallstelle zu Unfallstelle eilt oder zusammen mit der Polizei Todesnachrichten überbringt. Er sieht sich eher als Koordinator der ökumenischen Notfallseelsorge. „Notfallseelsorge ist Erreichbarkeit kirchlicher Seelsorge“, so beschreibt er, wie sich ihm dieser wichtige kirchliche Dienst darstellt, „und ich sehe es als meine Aufgabe an, diese Erreichbarkeit sicherzustellen. Ich sehe mich mehr als Manager, weniger als Seelsorger.“ In jedem der fünf Nürnberger Prodekanate gibt es einen Seelsorger mit Handy, der für einen Einsatz erreichbar ist. Zudem gibt es mehrere weitergebildete Notfallseelsorger (u. a. auch Diakone). Stahl: „Als Ziel der Notfallseelsorge sehe ich, den Gemeindepfarrer, der ja der Seelsorger der betroffenen Familie ist, zu verständigen – Kontakt herzustellen. Als unser Bruder Drews tödlich verunglückt ist, hab ich Kontakt mit der die Gemeindepfarrerin aufgenommen und bin nicht selbst gefahren. Die Gemeindepfarrerin ist die, die für die weitere Betreuung der Familie, bis hin zur Beerdigung, zuständig ist. Wie gesagt, Kontakte herzustellen, das sehe ich in erster Linie als die Aufgabe der Notfallseelsorge und damit auch als meine Aufgabe. Natürlich bin ich im Hintergrund immer erreichbar, wenn einmal alle Stricke reißen.“

Kontaktpflege und Vernetzung

Kontaktpflege sieht Bruder Stahl als eine seiner wichtigsten Aufgaben an. Kontakte zu Beratungsstellen, Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienste und sonstigen Hilfsorganisationen. So war er auch bei den Besprechungen zu den Veranstaltungen anlässlich der WM im letzten Jahr dabei. „Da wurden Einsatzpläne gemacht, wie mit einem ‚Großschadenereignis’ umgegangen werden soll. Da mussten Einsatzpläne auch für die Notfallseelsorge ausgearbeitet werden.“ Ich spüre, das Organisieren gefällt Andreas Stahl, hier liegt seine ganz besondere Begabung. Darum ist es für ihn keine Last, für entsprechende Vernetzungen mit Bahnhofsmission, Heilsarmee, Diakonie, Caritas und den anderen Hilfsdiensten zu sorgen. Er hat ein dickes Handbuch für die Notfallseelsorger vor Ort herausgegeben, das er immer wieder aktualisiert und auf dem Laufenden hält. „Mit diesem Handbuch könnte jemand, der in München ist, hier in Nürnberg Notfallseelsorge organisieren“, bemerkt er nicht ohne Stolz.

Fähigkeit Leid und Trauer auszuhalten

Bei aller Koordinations- und Organisationsarbeit bleibt er trotzdem in der seelsorgerlichen Praxis am Ball. Etwa 50 Einsätze fuhr er im letzten Jahr selbst. Da ist dann seine ganze Erfahrung gefragt, die er mit Menschen in Krisensituationen hat. Er weiß, dass er Zeit mitbringen und seine Bereitschaft zuzuhören vorhanden sein muss, auch die Fähigkeit Leid und Trauer auszuhalten. Ich frage ihn, ob er das dann mit nach Hause mitnimmt, was ihm bei einem Einsatz begegnet ist? „Nein, wenn der Einsatz abgeschlossen ist, ist das für mich abgeschlossen und ich vergesse, was ich gerade erlebt habe. Ich habe mir das in den vielen Jahren im Rettungsdienst antrainiert.“

Inzwischen ist auch Marion, seine Frau, nach Hause gekommen, die als Jugenddiakonin in Schniegling arbeitet. Sie bestätigt das: „Andreas hat das abgeschlossen, wenn er nach Hause kommt, er ist nicht aufgewühlt oder hängt schweigend rum.“ Dabei kann er u. U. auch sehr delikate Aufträge zu erledigen haben, die viel Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen erfordern. Er erinnert sich an die Überbringung einer Todesnachricht, die er der Ehefrau eines Mannes überbringen musste, der bei einer Prostituierten verstorben war. „Die Polizisten wollten da drum herum reden. Ich aber sagte der Frau in aller Offenheit, was vorgefallen war. Sie wollte alle Einzelheiten wissen. Darauf brach die Frau in helle Tränen aus. Durch die klaren Informationen fühlte sie sich ernst genommen und war so nach einer kurzen Schockphase wieder halbwegs handlungsfähig.“

Keinen Schaden erleiden

Bruder Stahl legt größten Wert darauf, dass Seelsorger mit Krisensituation professionell umgehen, damit auch sie keinen Schaden erleiden. Darum nehmen Schulungen einen Großteil seiner Zeit ein. „Seelsorger müssen wissen, wie sie sich in ungewöhnlichen Situationen verhalten und selbst damit umgehen können.“ Weiter meint Bruder Stahl: „Notfallseelsorge ist eigentlich nichts anderes als das, was Pfarrern und Gemeindediakonen in den Gemeinden begegnet.“ Im Aufgabenbereich von Andreas Stahl wird aber deutlich, wie wichtig Vernetzung und Koordination professioneller Hilfe in den Krisensituationen des Lebens sein kann und darin sieht er seine eigentliche Aufgabe.

13.10.2007

Radioandacht: Cristin

Cristin kam nach ihrer Geburt ins Säuglingsheim. Mit drei Jahren wurde sie adoptiert. Endlich hatte sie ein Zuhause. Als sie 12 war starb die Adoptiv-Mutter an einer schweren Krankheit. Für Cristin brach die Welt zusammen. Sie bat ihren Vater, in dieser schweren Nacht bei ihr zu bleiben und sie nicht allein zu lassen. Er ging weg. Auch Cristin verließ das Haus. Sie ging und betrank sich. Und weil das nicht gegen den Schmerz in ihrem Herzen half, nahm sie Drogen. Sie fühlte sich elend, verlassen, zuerst gewollt und dann weggeworfen. Zehn Jahre brachte sie mit Zigaretten, Alkohol und Drogen zu. Und weil Drogen Geld kosten, ging sie Anschaffen. Sie ertrug ihre geilen Freier ebenso, wie ihre brutalen Zuhälter. Der Ekel über ihr Leben ließ ihr nur noch die Wahl zwischen dem „Goldenen Schuss“ und einer Therapie.

In der Therapie lernte sie den kennen, der nicht wegwirft. Der auch dort ist, wo Elend und Versagen ist. Den, der Neues schaffen kann. Sie fand bei ihm Hilfe, wenn das Verlangen nach Alkohol und Drogen in ihr mächtig wurde und sie sich nach ihr ihrer Vergangenheit sehnte, wo scheinbar alles so cool und leicht war, weil ihr die Drogen den Verstand vernebelten.

Cristin ist seit Jahren ohne Zigaretten, Alkohol, Drogen und Sex. Sie hat Halt in Jesus. Gottes Wort hat in ihrem Herzen eine offene Tür gefunden. Staunend erlebt sie, wie ihr altes Leben Stück für Stück stirbt. Ihre Gewaltausbrüche und die Wut auf sich selbst, machen zunehmend der Liebe, die von Gott kommt, Platz. Gottes liebevolle Barmherzigkeit hat ihr ein neues, von Gott gesegnetes Leben geschenkt.

Radioandacht: Im Wartezimmer beim Zahnarzt

Ich sitze im Wartezimmer bei meinem Zahnarzt. Ohne Zweifel, es gibt Orte, an denen ich lieber bin. Ich möchte gerne ausweichen, mich verdrücken. Aber ich habe keine Möglichkeit, keine Wahl, denn die Zahnschmerzen sind unangenehm und belasten mich. Mit grummeln im Bauch und einem unangenehmen Gefühl der Spannung warte ich auf das, was auf mich zukommt.

Wir kennen das alle, unabänderliche Dinge, die unangenehm sind, die uns Angst machen und durchgestanden werden müssen.

Ich denke da jetzt nicht an einen Arzt- oder Zahnarztbesuch – oder an eine unangenehme Untersuchung oder Behandlung. Meine Gedanken sind bei einem unangenehmen Gespräch, bei einer schlechten Nachricht. Wenn wir oder andere tief betroffen und getroffen sind. Wenn wir Dinge ansprechen müssen, die Widerstand auslösen oder den anderen ins Mark treffen. Ich möchte nicht kalt sein, ohne Interesse an meinem Gegenüber. Sondern ich versuche ihn sehen als einen Menschen, der verletzbar ist, voller Gefühle.

Viele Christen falten in solch einer Situation die Hände und bitten Gott, in ihrer Angst, in ihren Worten und in dem Unangenehmen zu sein. Andere versuchen Gottes Wort zu vertrauen: Ich bin bei dir, in allem was du tust.

Radioandacht: Seid stille

Am Giebel der alten Trauerhalle im Fürther Friedhof lesen wir den Spruch: „Seid stille, sie schlummern nur!“ Es ist ein friedliches, ein tröstliches Bild, das zu uns aus diesen Worten spricht: Stille sein - Innehalten in unserer Trauer und in unserem Schmerz. Es zeigt Hoffnung, dass unsere Toten nicht auf ewig tot sind. Sie schlummern, bis sie zu einem neuen Leben geweckt werden. Diese hoffnungsfrohen Bilder entstehen in mir, wenn ich über diesen Friedhof gehe und die Inschrift am Giebel lese. Hoffnung, wir Menschen brauchen das. Ohne Hoffnung wird unser Leben sinnlos, unerträglich. Ich kann die Einladung: „Seid stille“ annehmen. Ich kann in meiner Klage über den Verlust eines geliebten Menschen innehalten und durch die Hoffnung getröstet, darauf warten was kommen wird.

Der Tod eines Menschen verunsichert uns. Wir fühlen die Grenze unseres eigenen Lebens. Bedrängende Fragen suchen Antwort: Gibt es eine Auferstehung der Toten, wie wir das im christlichen Glaubensbekenntnis bekennen, oder ist mit dem Tod alles aus und vorbei?

Es gibt keine Beweise für das was nach unserem Tod sein wird. Aber es gibt Zeugnisse von Menschen, die im Glauben bekennen konnten: „Ich werde nicht sterben, sondern leben“. Und wir haben das Wort Jesu, der die Macht des Todes gebrochen hat: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

Radioandacht: Notaufnahme

Wie aus heiterem Himmel lande ich in der Notaufnahme des Klinikums. Mein Herz macht Probleme – es schlägt nicht mehr wie es soll. Die Ruhe und die Freundlichkeit des Klinikpersonals wirken wohltuend und beruhigend auf mich. Ich fühle mich sicher und geborgen. Nach der ersten Untersuchung durch den Arzt werde ich in den Überwachungsraum gebracht. Ich bin angehängt an Monitore und Kabel. Computer und elektrische Geräte überwachen meinen gesundheitlichen Zustand. Der Arzt kommt zu meinem Nachbarn und eröffnet ihm lautstark, dass er einen Herzinfarkt erlitten hat und nun auf die Intensivstation verlegt wird. Ich überlege, wie es ihm wohl mit dieser schlimmen Nachricht gehen mag.

Während ich auf das Ergebnis der Laboruntersuchung warte, habe ich Zeit und Ruhe meine Hände zu falten und mit Gott meine jetzige Situation zu besprechen. - Es ist Frieden in mir. Ich fühle, dass Gott da ist und mich in dieser Situation nicht allein lässt. Staunend denke ich an den 144. Psalm: „Herr was ist der Mensch, dass du dich seiner annimmst, und des Menschen Kind, dass du ihn so beachtest?“ Dank durchströmt mein Herz und die Gewissheit, dass Gott auch diese Situation im Griff hat.

Radioandacht: Mein Türkischer Bettnachbar

Mein türkischer Bettnachbar, mit dem ich im Krankenhaus ein Zimmer teilte, kam nach dem gemeinsamen Frühstück auf seinen Glauben zu sprechen. Er erzählte, dass er an Gott glaubt und seinen Propheten Mohamed. Er war zusammen mit seiner Frau auf Pilgerfahrt in Mekka. Zu Hause verrichtet er die täglichen fünf Gebete – genau so, wie das der Prophet vorgeschrieben hat. Bekümmert meinte er nach einer Pause, dass das Leben voller Probleme sei und es in Ordnung ist, wenn er eines Tages stirbt. Danach wird er begraben und es ist alles gut. Aber nun hat er ein Problem, meinte er: Er wird er vor Gott stehen, der mit seinem Leben abrechnen wird - und das macht ihm Angst.

Ich hörte aufmerksam und schweigend zu.

Am nächsten Morgen erzählte ich ihm, dass ich Christ bin und an Jesus, den Gottessohn, glaube. Jesus möchte zwei Dinge von uns: „Du sollst Gott, deinen Herrn lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Eines Tages werde auch ich sterben, begraben werden und vor Gott stehen. Dann wird Gott mein Leben anschauen und ich werde bekennen müssen, dass ich es nicht geschafft habe so zu leben: Gott und meinen Nächsten in allen Dingen zu lieben. Deshalb bin ich schuldig geworden. Aber Jesus wird bei mir sein und mir wird meine Schuld vergeben, denn er hat sie auf sich genommen und die Strafe durch seinen Tod am Kreuz für mich bezahlt.

Mein Bettnachbar hörte aufmerksam und schweigend zu – es war Friede unter uns!

Radioandacht: Angst

Würden sie mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug springen? Ich ganz bestimmt nicht. Dazu hätte ich viel zu viel Angst. Der junge Student ist aus dem Flugzeug gesprungen – immer wieder. Es machte ihm Freude und er genoss es. Ganz schön mutig, denke ich.

Eines Tages fanden ihn seine Eltern, erhängt am Fensterkreuz. Ein Abschiedsbrief lag dabei. Er schrieb: „Verzeiht mir diesen Schritt aus dem Leben hinaus. Ich weiß, dass ich euch großen Schmerz zufüge. Aber ich habe solch große Angst, dass ich nicht mehr leben kann. Ich habe gebetet, bin in die Kirche gegangen, war beim Arzt – aber diese schreckliche Angst vor dem Leben ist mein Begleiter geblieben.“ So wie dem jungen Mann geht es vielen unter uns: Angst vor dem Leben. Sie leiden unter unserer schönen, aber oft auch Angst machenden Welt.

Angst – Jesus kennt das. Er weiß, dass uns diese Welt ängstigt. „In der Welt habt ihr Angst“, das sind seine Worte. Und er versucht uns zu trösten, bei uns zu sein, damit diese Angst nicht übermächtig und die alles bestimmende Kraft in unserem Leben wird. „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Es ist Hoffnung für uns, dass es einen Weg aus der Angst gibt. Jesus will uns ganz nahe sein, auch wenn uns die Angst überfällt und den Mut zum Leben raubt.