22.11.2007

Straßenkinder in Deutschland

Es ist kalt geworden in Deutschland.

Der Schnee hat unsere Ortschaft mit einer dicken weißen Schicht zugedeckt.

Vor wenigen Stunden kamen meine Kinder mit roten Nasen, kalten Händen und strahlenden Augen vom Schneehaus bauen nach Hause. In Akkordzeit wurden alle nassen Schneesachen ausgezogen und in die Ecke geworfen. Und noch schneller standen meine kleinen Räuber in der Küche, wo der heiße Kinderpunsch schon bereit stand. Eine Hand voll Kekse und eine Tasse Kinderpunsch, dazu drei leuchtende Kinderaugenpaare.

Jetzt ist es nach 24 Uhr. Meine Kinder liegen im warmen Bett. Bis zur Nasenspitze zugedeckt und schöpfen Energie für den neuen Tag.

Meine Gedanken wandern weg von meinen eigenen Kindern. Sie wandern hin zu den Kindern und Jugendlichen, die jetzt irgendwo im Freien sitzen und frieren. Deren Magen knurrt. Die ihre Restenergie benötigen, um diese Nacht zu überstehen. Meine Gedanken gleiten zu den Straßenkindern dieser Welt.

Jeder weiß, dass es sie gibt. Die Weltgesundheitsorganisation redet von ca. 33 Millionen, andere Organisationen von bis zu 100 Millionen Straßenkindern weltweit. Erschreckende Zahl. Und doch soweit weg. Indonesien, Afrika, Russland, Asien... schlimm, was in anderen Ländern so geschieht. Ein Glück leben meine Kinder in Deutschland, möchte ich gerade fertig denken, als mein Gedanke in diesem Gedanken stecken bleibt.

Straßenkinder in Deutschland, direkt vor meiner Tür.

Keine fünfzig Kilometer von meiner Wohnungstür entfernt gibt es sie. An die 600 Jugendliche und junge Erwachsene leben in und um Stuttgart mehr auf der Straße als Zuhause. Manche von ihnen leben ganz auf der Straße oder in Abbruchhäusern. Etwa 20 von ihnen stehen momentan vor der absoluten Obdachlosigkeit. Wenn diese Zahlen nur Stuttgart betreffen, wie hoch sind wohl die Zahlen bundesweit?

Und auch wenn die Straßenkinder Deutschlands nicht mit den Kindern der Straße Afrikas zu vergleichen sind, leben sie dennoch aus derselben Gleichung:

Die erlebte Not, der Weg hin zur Straße.

Die Straße ihr Zuhause.

Die Freunde ihre Familie.

Ich halte meine heiße Tasse Tee in den Händen. Beobachte leise ein paar Kerzen bei ihrem Lichtertanz. Der Raum ist von einer wohligen Wärme durchtränkt. Die Kälte des Winters hat keine Chance, in mein Haus einzuziehen. Und doch begegnet mir die Wahrheit, dass es kalt geworden ist in Deutschland.

Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, wenn wir unsere Augen verschließen möchten. Wenn unsere Ohren sich davor schützen wollen. Es gibt Euch, Euch Kinder der Straße. Und Euch begegnet eine Kälte, die Ihr nicht verdient habt.


Was treibt sie auf die Straße?


Eure erlebte Not hat Euch auf die Straße getrieben und zieht jeden Tag neue Jugendliche dorthin. Ist es wichtig, in welche Notkategorie jeder Einzelne von Euch eingestuft wird?

Vielleicht gehörst Du zu der Personengruppe, die täglich soviel seelische und körperliche Gewalt erfährt, dass Dein Zuhause Dir keine Zuflucht, keine Sicherheit schenkt. Vielleicht hast Du Angst nach Hause zu gehen. Dorthin wo Schläge, Missbrauch, Qual und Leid auf Dich wartet.

Vielleicht gehörst Du zu denen, die dem Leistungsdruck der Eltern nicht standhalten. Du erlebst das Gefühl, gar nicht die Chance zu bekommen, Dein Leben leben zu können. Weil man Dich wie eine Marionette benutzt. Weil man ganz genau weiß, was scheinbar gut und richtig für Dich ist. Welche Ziele Du zu erreichen hast. Ohne gefragt zu werden, ob Du dieses Leben, diese Ziele möchtest. Ob es Deine Ziele, Deine Wünsche und Deine Sehnsüchte sind.

Vielleicht gehörst Du zu denen, die von Kinderarmut betroffen sind. Und Dein Gang zur Straße gleicht einer Flucht vor dieser Realität, die diese neue Armut in Deutschland mit sich bringt.

Vielleicht wurdest Du auch von Deinen Eltern vor die Tür gesetzt. Weil man Zuhause Platz benötigte. Platz für Deine Geschwister, den neuen Partner. Platz, den Du in Anspruch genommen hast.

Vielleicht hat man Dir auch zur Volljährigkeit die Wohnungstüre von Außen gezeigt. Weil Du anscheinend der Grund für die Not und die Zwietracht innerhalb der Familie warst. Weil Du Deiner Familie Probleme machst.

Vielleicht gehörst Du auch zu den Wohlstandsübersättigten. Wurdest gemästet mit käuflichen Dingen. An Äußerlichkeiten überfressen, dennoch innerlich verhungert. Weil kein Spielzeug der Welt den Hunger nach Liebe stillen kann. Und Deine Eltern, Dein Umfeld nicht verstanden haben, dass ein Gameboy nicht innerlich erwärmt, keine Geborgenheit schenkt.

Vielleicht gehörst Du zu denen, die immer Zuhause alles durften. Deren Eltern meinten, dass Liebe keine Grenzen aufzeigt. Und Dein Gang auf die Strasse gleicht einem Hilferuf an Deine Eltern, Dir endlich einmal Grenzen aufzuzeigen. Grenzen der Liebe, die Dir Halt schenken können.


Straßenkinder sind mutige Kinder


Vielleicht gehörst Du auch in keine der genannten Kategorien.

Doch im Grunde ist es auch unwichtig, ob Du in eine Sparte gepresst werden kannst oder nicht.

Eines wird mir bewusst. Jedes Straßenkind, jeder von Euch ist ein sehr mutiges Kind, ein mutiger Jugendlicher, junger Erwachsener. Ihr tut genau das, was die wenigsten von uns tun. Ihr wehrt Euch. Ihr schreit Euer NEIN in die Welt hinein.

Ein NEIN zu all dem Schmerz, der Euch zugefügt wird. Ein NEIN zu der Not die Euch täglich Zuhause begegnet.

Ihr kämpft mit Euren Mitteln. Weil Ihr niemanden um Euch habt, der für Euch streitet, der für Euch eintritt, der für Euch kämpft, kämpft Ihr für Euch selber.

Ihr seid das große, laute NEIN zu all den Missständen, Verletzungen, Leiden ... mit denen unsere ganzen Kinder konfrontiert werden. Und dieses NEIN wir nur zu gerne überhören möchten.

Aber Ihr seid sehr starke Persönlichkeiten. Jeder Einzelne von Euch ist ein Bündel voller Mut. Keiner von Euch hat es verdient, dass Andere auf Euch verachtend herabblicken. Niemand hat das Recht Euch Eure Würde abzusprechen.

Ja, manche von Euch nehmen Drogen. Manche von Euch tun Dinge, die vor dem Gesetz nicht in Ordnung sind. Manche von Euch verkaufen ihren Körper. Ja, auch das ist die Wahrheit.

Aber die grundlegende Wahrheit ist, dass dies alles und viel mehr nur die Folgen sind. Und nicht die Ursache. Die Folgen für unser Wegsehen. Für unser Schweigen. Die Folgen Eurer Not, die keiner von den großen, starken Menschen um Euch beachtet hat.

Ob wir kleinen Leute dieser Gesellschaft es schaffen können diese Ursachen zu beseitigen?

Ich weiß es nicht.


Ohnmacht und Wut


Die Ohnmacht meldet sich zu Wort und mit ihr die Wut. Weil der Staat wieder einmal wegsieht.

Weil Hilfeleistungen gekürzt werden. Was nicht sein darf, gibt es nicht. „In Deutschland gibt es keine Straßenkinder. Wir haben nicht solche Zustände wie Russland.“

So hört man es doch immer wieder.

Ja, vermutlich habt Ihr alle eine Anschrift. Die meisten Eurer Eltern haben einen Wohnsitz und dadurch auch Ihr. Es gibt zur Not ja Jugendheime, die Euch auffangen können, wenn das Zuhause kein Zuhause bietet.

Aber selbst wenn dies alles die Wahrheit ist. Bedeutet ein Schlafplatz, ein Dach über dem Kopf ein Zuhause? Kann ein Jugendheim eine gesunde Familie, eine Heimat ersetzen?

Ich weiß nicht, wie man diese Ursachen beseitigen kann. Aber ich weiss, dass wir es schaffen können, Euch in Eurem jetzigen Sein zu unterstützen.

Es liegt an jedem Einzelnen von uns, wie wir Euch begegnen. Ob wir auf die Folgen oder auf die Ursachen blicken möchten. Wir entscheiden darüber, ob wir hinsehen oder wegsehen möchten.

Ihr habt Nein gesagt zu Dingen, die Euch hindern, Eure Ziele zu verwirklichen. Ein anderes, besseres Leben. Ein Leben das den Namen desjenigen trägt, der es auslebt.

Ein lautes NEIN wegen des JA´s zum Leben.

Und wieder wandert mein Blick hin zu den tanzenden Kerzenlichtern. Die Hilflosigkeit möchte in mir einziehen. Weil ich so gerne helfen möchte und nicht weiss wie. Ich fühle mich so klein gegenüber den Missständen unserer Welt. Und ich erlebe das Gefühl, wie die Kälte Deutschlands doch langsam in mein Sein wandert.

Aber halt, ihr düsteren Gedanken der Nacht! Nicht jeder überhört dieses NEIN. Und manche hören sogar dieses JA hinter dem NEIN. Dieses JA zum Leben. Auch wenn dieses JA fast in der Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit versunken ist.


Wer hilft?


In den meisten Großstädten gibt es Organisationen, die sich für die Kinder der Straße einsetzen. Da gibt es Menschen die hinsehen. Die ihre Hände austrecken und ganz praktisch helfen möchten und tun. Diese Menschen wissen, ein Frühstück am Morgen, die Möglichkeit zu duschen, ein Notschlafplatz... verändert nicht Euer jetziges Leben. Aber ein warmes Essen macht satt. Eine Anlaufstelle ersetzt kein Zuhause, aber sie verschafft die Möglichkeit der Begegnung, des Austausches, der Hilfe. Nicht immer alles alleine durchstehen müssen, da es dort eine Hand voll Menschen gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Euch ein Stück zu begleiten. Die Euch dabei unterstützen möchten, dass aus Euren fast verschwundenen Träumen wieder Ziele werden. Eure Träume, nicht die Träume, die ein anderer für Euch sich erträumt. In diesen Anlaufstellen geht es um Euch. Endlich einmal nur um Euch.

Und so denke ich an die Anlaufstelle "Schlupfwinkel", die in Stuttgart ansässig ist. Ein Schlupfwinkel der wirklich Unterschlupf bietet. Der genau diese Dinge tut, die jemand tun muss und die keiner von uns so richtig tun will. Weil sich niemand von uns dafür verantwortlich fühlt.

Drei hauptamtliche und mehrere ehrenamtliche Mitarbeiter tun dort das, worüber wir reden. Wozu wir verpflichtet wären, weil es um unsere Kinder geht.

Im Schlupfwinkel gibt es Menschen, mit denen Ihr reden könnt. Die Euch helfen können. Die mit Euch gemeinsam den Weg gehen möchten, dass Euer lautes NEIN nicht umsonst war. Deren Ziel es nicht ist, Euch nur schnell weg von der Strasse zu holen, damit unsere Strassen wieder schöner werden. Sondern die mit Euch einen Weg weg von der Strasse finden möchten, damit Ihr nicht nur überlebt sondern lebt.

Auch wenn Schlupfwinkel kein Zuhause ersetzen kann. So bedeutet doch der Schlupfwinkel eine Oase der Heimat. Ein Ort der Zuflucht. Der aktiven, guten Hilfe.

Wir kleinen Menschen dieser Gesellschaft, wir können vermutlich wirklich die große weite Welt nicht verändern.

Aber wir können die Welt vor und hinter unserer Türe verändern. Wir können hinsehen, wo andere wegsehen. Wir können unsere Türen öffnen, für Menschen, die sonst nur vor verschlossene Türen stehen. Wir können finanziell die Anlaufstellen unterstützen, damit sie weiter ihren Dienst für die Kinder unserer Strasse tun können. Wir können so viel tun. Die große, weite Welt beginnt genau da, wo wir stehen und leben.

Ja, es ist kalt geworden in Deutschland. Doch wir können dazu beitragen, dass sich Deutschland wieder erwärmt

Michaela Ender

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