21.01.2008

Apostelgeschichte 16, 9-15

Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.
Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen.
Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, so dass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.

 Liebe Gemeindeglieder,
liebe Schwestern und Brüder,
»Kirche der Freiheit« – so heißt das Zukunftspapier der EKD vom Sommer 2006. Wie soll Kirche im Jahr 2030 aussehen, was sind »Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert«? Hochrangige Vertreter der deutschen Landeskirchen haben sich über einen längeren Zeitraum mit dieser Frage beschäftigt (darunter zwei Bischöfe) und schließlich dieses Papier vorgelegt. Neben allerhand konkreten Wegweisungen finden sich darin auch vier Prinzipien für kirchliche Arbeit, genauer gesagt: vier Prinzipien für Veränderungsprozesse, wie sie Gemeinden und die Kirche im Ganzen durchlaufen.
Von einem Veränderungsprozess erzählt auch der heutige Predigttext. Und ich tue mal so, als könnten wir Paulus und ein Mitglied aus der Perspektivkommission der EKD an einen Tisch bringen und zuhören, wie die beiden sich unterhalten. Wie sah kirchliche Arbeit vor 2000 Jahren bei Paulus aus, wie soll sie nach Meinung der EKD heute bzw. künftig aussehen?
Im Zukunftspapier der EKD lesen wir auf der Seite 45:
a) Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität.Wo evangelisch draufsteht, muss Evangelium erfahrbar sein.
In diesem Motiv scheint das biblische Bild vom Licht der Welt auf, von dem Licht, das nicht unter den Scheffel gestellt werden soll.[1]
Paulus geht es einzig und allein darum, das Evangelium zu predigen (V.10) und Glauben an Jesus Christus zu wecken. Deshalb sucht er den Ort auf, wo er religiöse Menschen vermutet – draußen am Fluss, wo sich anscheinend eine Gebetsstätte oder Ähnliches für Menschen befindet, die dem Judentum nahe stehen. Inhaltlich wird an dieser Stelle über die Verkündigung des Paulus nichts gesagt: dass sie schließlich zur Taufe führt, weist eindeutig darauf hin, dass es Predigt ist, die auf Jesus Christus hinweist und ihn als Mittelpunkt des Glaubens vor Augen malt.
Daraus ergibt sich die Frage an unsere Gemeinde, ob in unseren vielfältigen Aktivitäten dieses »Christusprofil« ausreichend deutlich wird? So dass Menschen den Unterschied zwischen Gemeinde und Verein, oder anderen Kulturinstitution etc. spüren? Wird deutlich: dieser Jesus Christus prägt diese Menschen – nicht nur in ihrer religiösen Innerlichkeit, sondern auch in ihrem Verhalten nach außen, in den Entscheidungen des Kirchenvorstandes und des Leitenden Kreises der Jungen Gemeinde, aber auch in den Zielsetzungen der Gruppen und Kreise?
Weiter lesen wir in dem EKD-Papier:
b) Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit. Kirchliches Wirken muss nicht überall vorhanden sein, wohl aber überall sichtbar.
Hier ist an die vielfältige Bedeutung des zeichenhaften Handelns Jesu zu denken (besonders die Heilungs- und Wundergeschichten).
Paulus meint nicht, die ganze Stadt erreichen zu können. Wohl nimmt er die urbane Situation aufmerksam wahr. Er war bereits mehrere Tage in der in der Stadt. Dann erst entschließt er sich zu einem begrenzten Missionseinsatz – mehr wäre wohl zwei einzelnen Personen auch gar nicht möglich gewesen.
Frage an unsere Gemeinde: Wo gilt uns diese Schwerpunktsetzung? Worauf müssen wir uns in unserer Gemeindearbeit konzentrieren? Sind wir immer noch der Meinung, alles abdecken zu müssen, was de facto schon längst nicht mehr geschieht? Wäre es nicht besser, dass wir uns nicht verzetteln, sondern stattdessen unsere Arbeit auf bestimmte Bereiche oder Personengruppen beschränken? Dass kirchliche Wirksamkeit klein beginnt, ist weniger das Problem als vielmehr der Unersetzbarkeitskomplex, der dazu führt, Arbeitsgebiete aufrechtzuerhalten, die längst aufgegeben werden müssten. Wo sollten wir neue Prioritäten setzen?
Hören wir den nächsten Punkt aus dem Perspektivpapier der EKD:
c) Beweglichkeit in den Formen statt Klammern an Strukturen. Nicht überall muss um des gemeinsamen Zieles willen alles auf dieselbe Weise geschehen; vielmehr kann dasselbe Ziel auch auf verschiedene Weise erreicht werden.
Im Bild „vom Leib Christi“ darf man den „den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche“ sein.[2]
Normalerweise beginnt Paulus seine Wirksamkeit bei den Synagogen. Dort begegnet er Juden, Konvertiten und gottesfürchtige Sympathisanten. In Philippi gibt es keine Synagoge, also geht er hinaus vor die Stadt und arrangiert sich mit den dort herrschenden gottesdienstlichen Formen: er stößt zum gemeinsamen Gebet der Frauen und wählt als Kommunikationsform des Evangeliums nicht die Predigt, sondern das Gespräch.
Frage an unsere Gemeinde: Welche verschiedenen Gruppen und Milieus gibt es bei den Menschen, die zu unserer Gemeinde gehören? Für welche Gruppen und für welche Milieus sind unsere Gottesdienste geeignet? Für welche Gruppen und für welche Milieus sind die vielen Gruppen und Kreise unserer Gemeinde bestimmt? Wo brauchen Menschen bei uns andere Formen, um mit Glaube und Kirche in Berührung zu kommen? Wo brauchen sie andere Gottesdienstformen, andere Musik, andere Zugänge, um dem Christus zu begegnen, der allen Menschen begegnen will? Wo werden Menschen ausgeschlossen, weil sie sich mit Orgelmusik schwertun oder lieber mit ihrer Familie frühstücken, als sonntagmorgens um 10 Uhr zum Gottesdienst zu kommen?
d) Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit. Auch der Fremde soll Gottes Güte erfahren können, auch der Ferne gehört zu Christus.
Das Bild von „Christus als Haupt der Gemeinde“ veranschaulicht, dass seine Gegenwart in der Welt immer größer und weiter ist als der je eigene Glaube und die je eigene Gemeinde.[3]
Paulus lässt sich rufen. Hinter dem Hilferuf des Mazedoniers erkennt er die Not eines ganzen Kontinents, der noch nichts von der Liebe Gottes in Jesus Christus weiß. Das drängt ihn wie selbstverständlich in neue Bahnen. Er wird weiterwandern, predigen und Gemeinden gründen, soweit es Gott zulässt.
Frage an die Gemeinde:
30% der Bevölkerung haben ein ausgeprägtes Interesse an religiösen Fragen und Themen (wobei das Interesse an Kirchen und Religionen weitgehend deckungsgleich ist). Auffallend ist, dass in der Gruppe der 16 bis 29-Jährigen jeder fünfte ein stark ausgeprägtes Interesse an religiösen Themen hat. Die Zahl der Interessierten ist also weit höher als die Zahl derjenigen, die von den Kirchen mit ihrer Jugendarbeit erreicht werden, obwohl auch diese Zahl bemerkenswert ist, da sie über 10% der entsprechenden Jahrgänge liegt.[4]
Ich frage die Gemeinde weiter: Wie können wir diesen Menschen begegnen, so dass sie vom Interesse Gottes an ihnen erfahren? Ist unsere Gemeinde in ihrer praktischen Arbeit missionarisch ausgerichtet, d.h., versucht sie bewusst Unerreichte zu erreichen, oder ist sie primär Treffpunkt für die, die so weit religiös sozialisiert wurden, dass sie den Kontakt zur Kirche lebendig halten? Wie nehmen wir die versteckten religiösen Bedürfnisse der Menschen um uns herum wahr? Was bedeutet »Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit« für unsere Gemeinde?
Mission ist gelebte Lust Gottes am Menschen – Gott hat Lust am Menschen und wünscht sich, dass auch der Mensch Lust an ihm bekommt. Daraus entspringt jede Mission und kann darin selbst auch zu einem »lustvollen« Geschäft werden: wenn Erfahrungen geschenkt werden wie in Philippi, dass Menschen in der Kraft des heiligen Geistes vom Evangelium berührt werden und etwas Neues beginnt.
Amen.
gehalten am 27.2.2008



[1] Lukas 11,33
[2] 1. Korinther 9, 20
[3] Kolosser 1,15ff.
[4] Impulspapier des Rates der EKD - Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert Seite 16

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