21.01.2008

Radio F: Moment mal - Zeit

Ich stand vor dem kleinen Lebensmittelladen eines oberbayerischen Diakoniedorfs und wartete, dass er endlich öffnete. Es verging Minute um Minute und es rührte sich nichts. Mit mir wartete ein etwas älterer Bewohner des Ortes. Als er meine wachsende Ungeduld bemerkte, meinte er trocken: „Weißt du, hier gehts nicht nach Minuten und Sekunden, hier gehts nach Stunden und Tage“. Und strahlte mich mit breitem Grinsen an.

Später hat mir das Warten vor der Krämerei nichts mehr ausgemacht. Ich begann ich es zu genießen, dass es Orte gibt, wo die Zeit etwas langsamer voranschreitet.

Was können wir heute nicht alles in kürzester Zeit bewegen? Wir können Nachrichten in Sekunden um den ganzen Globus schicken und in wenigen Stunden große Strecken mit dem Auto, der Bahn oder dem Flugzeug zurücklegen. Maschinen helfen uns Waren in großen Stuckzahlen in Windeseile zu produzieren, manchmal schneller als unsere Augen das verfolgen können.

Eigentlich müssten wir Zeit im Überfluss haben. Aber Zeit scheint bei uns Mangelware zu sein. Kaum jemand hat wirklich Zeit. Wir haben uns einen Lebensstil des Hastens und Hetzens angewöhnt. Uns plagen Unruhe und Ungeduld.

Nun aber sagt Gott, dass er der Herr unserer Zeit sein will. Ich denke, dass er nicht will, dass wir uns keine Ruhe mehr gönnen, und kaum Zeit für einander haben. Ja, ich weiß, es gehört Mut dazu den eigenen Tagesplan kritisch anzusehen und rigoros darin zu streichen.

Radio F: Moment mal - Warum?

Aufwachsende Kinder können uns mit der Frage nach dem „Warum“ Löcher in den Bauch fragen. Ich kenne das von meiner fünfjährigen Enkelin Sabine: Warum wird es am Abend dunkel? Warum haben Mädchen keinen Penis? Warum ist die Milch weiß? Warum musst du heute wieder nach Hause fahren und kannst nicht hier übernachten? Warum … warum … warum. Manchmal können uns die Kleinen mit dem ewigen Warum so richtig an unsere Grenzen bringen – besonders am Abend, wenn wir müde und abgespannt sind und sie fragen: Warum muss ich jetzt schlafen gehen?

Ich denke wir Erwachsene sind auch nicht viel besser. Uns bewegt auch so manches, auf das wir brennend Antworten möchten: Nach einem schweren Unfall, oder wenn jemand schwer krank wird oder überraschend stirbt. Dann sind sie da, die Fragen nach dem Warum. Schicksalsschläge fordern Antworten. Antworten, die es leider oft nicht gibt. Und doch haben wir den Eindruck, als könnten wir das Unverstehbare erst dann annehmen, wenn die Frage nach dem Warum geklärt ist. Die Warum-Frage scheint eine Frage nach der Gerechtigkeit zu sein. Manchmal auch nach der Gerechtigkeit Gottes.

Auch in der Bibel finde die Frage nach dem Warum. - In den Psalmen kann ich lesen: Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich so traurig gehen? - Auch Jesus stellt am Kreuz die Frage nach dem Warum: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Es gibt oft keine Antwort auf unser Warum. Aber das Warum kann uns hinführen zum Vertrauen, dass denen, die Gott lieben alle Dinge zum Besten dienen müssen.

Radio F: Moment mal - Soziale Kompetenz

Vor ein paar Tagen konnte ich im Wartebereich bei meinem Hals-Nasen-Ohrenarzt eine Mutter mit ihren drei Kindern beobachten. Die Älteste etwa 8-9 Jahre alt und zwei jüngere, noch nicht im schulpflichtigen Alter. Die Mutter war, nachdem sie mit ihren Kindern beim Arzt im Sprechzimmer war, noch an der Anmeldung um etwas zu erledigen. Inzwischen holte die Älteste für sich und ihre kleinen Geschwister die Mäntel, die an der Gaderobe hingen und zog sie ihnen mit ein paar freundlichen Worten an. Das lief alles wie selbstverständlich ab. Dann setzten sich die drei in die Kinderecke und malten, bis die Mutter kam.

Ich sog dieses Familien-Bild förmlich in mich ein. Hier erlebte ich etwas, was man heute nicht mehr so oft sieht. Ich erlebte soziale Kompetenz. Verantwortung für sich selbst und Schwächere. Nicht umsonst wird soziale Kompetenz heute immer stärker eingefordert. Denn der um sich greifende Egoismus unter uns, die Ellenbogenmentalität, die nur die eigenen Bedürfnisse sieht, haben uns nicht weitergebracht. Es scheint langsam wieder in unser Bewusstsein zu dringen: Wenn Zusammenleben funktionieren soll, dann nur so, dass die Starken für die Schwachen da sind. Das gilt für Kinder und Jugendliche, aber auch für uns Erwachsene und für die, die in unserem Staat und in der Wirtschaft an der Spitze stehen.

Jesus sagt: Was ihr einem, dieser meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Das gilt für das Gute, aber auch für das Böse, und auch für das was wir unterlassen haben.

Radio F: Moment mal - Klassenprügel

Ein etwa 10-jähriger Junge stand vor dem Schulhof, umringt von 10 bis 15 Gleichaltrigen und rief nach seiner Mama. Die anderen lachten ihn aus und schlugen auf ihn ein. Er wehrte sich nicht, sondern weinte und schrie weiter vor Angst. Endlich erbarmte sich eine etwas resolute Passantin und machte dem bösen "Spiel" ein Ende.

Diese Szene ereignete sich in den 60er Jahren, in meiner Heimatstadt Augsburg. Der Junge, der nach seiner Mama schrie, war ich. „Klassenprügel“ nannte man das damals, die ich regelmäßig bekam. Heute würde man vielleicht von Mobbing oder ähnlichem sprechen.

Gewalt unter Kinder und Jugendlichen ist also nicht nur ein Thema von heute. Kinder beherrschten es scheinbar schon immer, auf scheinbar Schwächere loszugehen, oder auf solche, die anders waren. Ich rede damit nicht klein, was solche Gewalt anrichtet, die sich heute oft an völlig Unbeteiligten auslässt. Ich spiele damit auch nicht Gewalt herunter nach dem Motto: Das war schon immer so!

Allerdings lässt mich die Frage nicht los, was in der Erziehung einiger unserer jungen Leute falsch läuft. Welches Menschenbild wird ihnen vermittelt, was lässt sie schlimmer als ein Tier sein. Warum reißen sie scheinbar mühelos Grenzen ein und treten buchstäblich die Achtung vor der Würde und Unversehrtheit des Anderen mit Füßen? Ein Tier hört auf, wenn der Artgenosse sich ergibt und wehrlos am Boden liegt.

Radio F: Moment mal - Leben

Um Ostern herum grüßen uns überall in der Natur erste Frühlingsboten. Sie künden, dass das Leben am Ende des Winters wieder erwacht. Für viele ist das Osterfest deshalb zum Frühlingsfest geworden, mit Osterhasen und Leckereien, mit Schinken, Osterbrot und hartgekochten Eiern. Umfragen beweisen es: Kaum jemand auf der Straße kann auf Anhieb Auskunft über den Sinn des Osterfestes geben. Es ist wenig bekannt, dass christliche Gemeinden an Ostern die Auferstehung Jesu feiern – den Sieg des Lebens über den Tod. Und das, obwohl die meisten der Befragten einer Kirche angehören, konfirmiert oder gefirmt sind.

Um den Sinn des Osterfestes zu wissen, hat nichts mit Glauben zu tun. Es ist eher eine Frage, wie wir mit unserer Kultur umgehen. Aussagen von Malerei, Musik und Texten sind oft kaum zu verstehen, wenn uns diese Grundlagen fehlen. Das Denken unseres christlichen Abendlandes ist davon geprägt, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Es ist geprägt von der Auferstehung der Toten, dem jüngsten Gericht und dem ewigen Leben bei Gott.

Übrigens: Ohne den Glauben daran, dass Jesus, der Gottessohn, den Tod besiegt hat und auferstanden ist, wird für mich das Christentum lediglich zu einer Philosophie, wie es viele auf dieser Welt gibt. Jesus Christus spricht: Ich lebe und ihr sollt auch leben. So lautet die Jahreslosung für 2008.

Radio F: Moment mal - Glatteis

Ich denke zurück: Was war heute? Fahrt zur Arbeit, es ist glatt. Ich muss vorsichtig sein. Im Radio höre ich Unfallmeldungen. Eine Meldung elektrisiert mich: Schulbusunfall. Gott sei Dank ist den Kindern nichts passiert. Das schleudernde Fahrzeug, das in den Bus geprallt ist, die tödlich verletzte Fahrerin, der Unfallschock bei den Kindern - meine Gedanken kreisen.

Dann Dienstbesprechung, tägliches Allerlei. Wir versuchen unsere Arbeit zu organisieren. Urplötzlich steht ein Konflikt im Raum - es knallt. Glatteis. Heftige Aussprache, dann geht es wieder ruhig weiter. Gott sei Dank! Ich bin froh, dass das beruhigende, heilende Wort gefunden werden kann.

Für die schleudernde Fahrerin gibt es keine Zukunft mehr. Ich fühle in mir den Wunsch, dass die "Schleudertouren" unseres Lebens nicht dahin führen, dass wir uns tödlich verletzen. Sondern, dass uns das Glatteis unseres Lebens immer wenigstens eine Türe offen lässt, zu einem Neuanfang. Einen Notausstieg, der uns nicht unser Gesicht verlieren lässt, wenn unser Leben auf Glatteis geraten ist und wir ins Schleudern kommen. Sind wir bereit, auch dem Anderen den Rückzug zu ermöglichen, damit er es unbeschadet in Zukunft besser machen kann?

Vergebt einander! das ist die Meinung Jesu dazu.

Apostelgeschichte 16, 9-15

Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.
Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen.
Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, so dass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.

 Liebe Gemeindeglieder,
liebe Schwestern und Brüder,
»Kirche der Freiheit« – so heißt das Zukunftspapier der EKD vom Sommer 2006. Wie soll Kirche im Jahr 2030 aussehen, was sind »Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert«? Hochrangige Vertreter der deutschen Landeskirchen haben sich über einen längeren Zeitraum mit dieser Frage beschäftigt (darunter zwei Bischöfe) und schließlich dieses Papier vorgelegt. Neben allerhand konkreten Wegweisungen finden sich darin auch vier Prinzipien für kirchliche Arbeit, genauer gesagt: vier Prinzipien für Veränderungsprozesse, wie sie Gemeinden und die Kirche im Ganzen durchlaufen.
Von einem Veränderungsprozess erzählt auch der heutige Predigttext. Und ich tue mal so, als könnten wir Paulus und ein Mitglied aus der Perspektivkommission der EKD an einen Tisch bringen und zuhören, wie die beiden sich unterhalten. Wie sah kirchliche Arbeit vor 2000 Jahren bei Paulus aus, wie soll sie nach Meinung der EKD heute bzw. künftig aussehen?
Im Zukunftspapier der EKD lesen wir auf der Seite 45:
a) Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität.Wo evangelisch draufsteht, muss Evangelium erfahrbar sein.
In diesem Motiv scheint das biblische Bild vom Licht der Welt auf, von dem Licht, das nicht unter den Scheffel gestellt werden soll.[1]
Paulus geht es einzig und allein darum, das Evangelium zu predigen (V.10) und Glauben an Jesus Christus zu wecken. Deshalb sucht er den Ort auf, wo er religiöse Menschen vermutet – draußen am Fluss, wo sich anscheinend eine Gebetsstätte oder Ähnliches für Menschen befindet, die dem Judentum nahe stehen. Inhaltlich wird an dieser Stelle über die Verkündigung des Paulus nichts gesagt: dass sie schließlich zur Taufe führt, weist eindeutig darauf hin, dass es Predigt ist, die auf Jesus Christus hinweist und ihn als Mittelpunkt des Glaubens vor Augen malt.
Daraus ergibt sich die Frage an unsere Gemeinde, ob in unseren vielfältigen Aktivitäten dieses »Christusprofil« ausreichend deutlich wird? So dass Menschen den Unterschied zwischen Gemeinde und Verein, oder anderen Kulturinstitution etc. spüren? Wird deutlich: dieser Jesus Christus prägt diese Menschen – nicht nur in ihrer religiösen Innerlichkeit, sondern auch in ihrem Verhalten nach außen, in den Entscheidungen des Kirchenvorstandes und des Leitenden Kreises der Jungen Gemeinde, aber auch in den Zielsetzungen der Gruppen und Kreise?
Weiter lesen wir in dem EKD-Papier:
b) Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit. Kirchliches Wirken muss nicht überall vorhanden sein, wohl aber überall sichtbar.
Hier ist an die vielfältige Bedeutung des zeichenhaften Handelns Jesu zu denken (besonders die Heilungs- und Wundergeschichten).
Paulus meint nicht, die ganze Stadt erreichen zu können. Wohl nimmt er die urbane Situation aufmerksam wahr. Er war bereits mehrere Tage in der in der Stadt. Dann erst entschließt er sich zu einem begrenzten Missionseinsatz – mehr wäre wohl zwei einzelnen Personen auch gar nicht möglich gewesen.
Frage an unsere Gemeinde: Wo gilt uns diese Schwerpunktsetzung? Worauf müssen wir uns in unserer Gemeindearbeit konzentrieren? Sind wir immer noch der Meinung, alles abdecken zu müssen, was de facto schon längst nicht mehr geschieht? Wäre es nicht besser, dass wir uns nicht verzetteln, sondern stattdessen unsere Arbeit auf bestimmte Bereiche oder Personengruppen beschränken? Dass kirchliche Wirksamkeit klein beginnt, ist weniger das Problem als vielmehr der Unersetzbarkeitskomplex, der dazu führt, Arbeitsgebiete aufrechtzuerhalten, die längst aufgegeben werden müssten. Wo sollten wir neue Prioritäten setzen?
Hören wir den nächsten Punkt aus dem Perspektivpapier der EKD:
c) Beweglichkeit in den Formen statt Klammern an Strukturen. Nicht überall muss um des gemeinsamen Zieles willen alles auf dieselbe Weise geschehen; vielmehr kann dasselbe Ziel auch auf verschiedene Weise erreicht werden.
Im Bild „vom Leib Christi“ darf man den „den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche“ sein.[2]
Normalerweise beginnt Paulus seine Wirksamkeit bei den Synagogen. Dort begegnet er Juden, Konvertiten und gottesfürchtige Sympathisanten. In Philippi gibt es keine Synagoge, also geht er hinaus vor die Stadt und arrangiert sich mit den dort herrschenden gottesdienstlichen Formen: er stößt zum gemeinsamen Gebet der Frauen und wählt als Kommunikationsform des Evangeliums nicht die Predigt, sondern das Gespräch.
Frage an unsere Gemeinde: Welche verschiedenen Gruppen und Milieus gibt es bei den Menschen, die zu unserer Gemeinde gehören? Für welche Gruppen und für welche Milieus sind unsere Gottesdienste geeignet? Für welche Gruppen und für welche Milieus sind die vielen Gruppen und Kreise unserer Gemeinde bestimmt? Wo brauchen Menschen bei uns andere Formen, um mit Glaube und Kirche in Berührung zu kommen? Wo brauchen sie andere Gottesdienstformen, andere Musik, andere Zugänge, um dem Christus zu begegnen, der allen Menschen begegnen will? Wo werden Menschen ausgeschlossen, weil sie sich mit Orgelmusik schwertun oder lieber mit ihrer Familie frühstücken, als sonntagmorgens um 10 Uhr zum Gottesdienst zu kommen?
d) Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit. Auch der Fremde soll Gottes Güte erfahren können, auch der Ferne gehört zu Christus.
Das Bild von „Christus als Haupt der Gemeinde“ veranschaulicht, dass seine Gegenwart in der Welt immer größer und weiter ist als der je eigene Glaube und die je eigene Gemeinde.[3]
Paulus lässt sich rufen. Hinter dem Hilferuf des Mazedoniers erkennt er die Not eines ganzen Kontinents, der noch nichts von der Liebe Gottes in Jesus Christus weiß. Das drängt ihn wie selbstverständlich in neue Bahnen. Er wird weiterwandern, predigen und Gemeinden gründen, soweit es Gott zulässt.
Frage an die Gemeinde:
30% der Bevölkerung haben ein ausgeprägtes Interesse an religiösen Fragen und Themen (wobei das Interesse an Kirchen und Religionen weitgehend deckungsgleich ist). Auffallend ist, dass in der Gruppe der 16 bis 29-Jährigen jeder fünfte ein stark ausgeprägtes Interesse an religiösen Themen hat. Die Zahl der Interessierten ist also weit höher als die Zahl derjenigen, die von den Kirchen mit ihrer Jugendarbeit erreicht werden, obwohl auch diese Zahl bemerkenswert ist, da sie über 10% der entsprechenden Jahrgänge liegt.[4]
Ich frage die Gemeinde weiter: Wie können wir diesen Menschen begegnen, so dass sie vom Interesse Gottes an ihnen erfahren? Ist unsere Gemeinde in ihrer praktischen Arbeit missionarisch ausgerichtet, d.h., versucht sie bewusst Unerreichte zu erreichen, oder ist sie primär Treffpunkt für die, die so weit religiös sozialisiert wurden, dass sie den Kontakt zur Kirche lebendig halten? Wie nehmen wir die versteckten religiösen Bedürfnisse der Menschen um uns herum wahr? Was bedeutet »Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit« für unsere Gemeinde?
Mission ist gelebte Lust Gottes am Menschen – Gott hat Lust am Menschen und wünscht sich, dass auch der Mensch Lust an ihm bekommt. Daraus entspringt jede Mission und kann darin selbst auch zu einem »lustvollen« Geschäft werden: wenn Erfahrungen geschenkt werden wie in Philippi, dass Menschen in der Kraft des heiligen Geistes vom Evangelium berührt werden und etwas Neues beginnt.
Amen.
gehalten am 27.2.2008



[1] Lukas 11,33
[2] 1. Korinther 9, 20
[3] Kolosser 1,15ff.
[4] Impulspapier des Rates der EKD - Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert Seite 16

28.12.2007

Predigt am Altjahresabend 2007

Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade. Hebräer 13, 8-9b

Liebe Gemeindeglieder,
liebe Schwestern und Brüder in Christus,

Jesus Christus, das Allheilmittel. So könnten wir auch unseren heutigen Predigttext am Ende des Jahres verstehen. Und da gibt es wahrlich viel zu heilen, wenn wir zurückblicken. Was ist nicht alles in unserem persönlichen Leben gewesen, das uns belastet und bedrängt. Viele unter uns tragen Trauer in ihrem Herzen. Trauer um einen geliebten Menschen, Trauer über Schuld und Versagen, Trauer über verlorene Gesundheit.

Wenn wir in die Zeitungen schauen oder die Rückblicke in Rundfunk und Fernsehen hören oder ansehen, dann erinnern wir uns an all das, das uns schon so weit weg schien. Wir können es beinahe nicht glauben, dass das, in den vergangenen 12 Monaten, unsere Herzen bewegt hat und Teil der Nachrichten war. Wir erinnern uns an Dinge, die uns Freude und Kummer bereitet haben, über die wir gelacht haben oder die uns Kummer machten.

Da wird der Ministerpräsident aus dem Amt gemobbt, Airbus baut 10.000 Stellen ab, und die deutsche Handball-Nationalmannschaft wird Weltmeister. Künftig gibt es erst Rente mit 67 Jahren, in Heiligendamm tagt der G 8-Gipfel und verwandelt den Ort zu einer Festung. London und Glasgow melden Terroralarm, während im Gazastreifen Bürgerkrieg herrscht. Die Rote Moschee in Islamabad wird tagelang belagert. Die Tour de France wird durch Doping-Fälle zum Spott. Acht Inder werden bei einer Hetzjagd durch das sächsische Müglen schwer verletzt. In Bayern taucht wieder Ekelfleisch auf. In Birma schlägt das Militärregime die friedlichen Proteste der Mönche gewaltsam nieder. In Deutschland nimmt die Polizei drei mutmaßliche islamistische Terroristen im Sauerland fest. Die deutschen Fußballfrauen werden in Schanghai wieder Fußball-Weltmeister. Günter Beckstein wird bayerischer Ministerpräsident. Vizekanzler Müntefering tritt aus persönlichen Gründen zurück. Die Fürther Landrätin Gabriele Pauli verabschiedet sich ganz aus ihrer Partei. In Schleswig-Holstein findet die Polizei in einem Haus fünf tote Kinder. Weitere Kindermorde erschüttern an Weihnachten die Oberpfalz und München. In Pakistan wird nach den Weihnachtstagen die Oppositionsführerin Benazir Bhutto erschossen.

Eine Rückschau, die nur ein weinig hineingegriffen hat in die Ereignisse eines Jahres. Eine Rückschau, die uns übermächtig deutlich macht: Wir brauchen Heilung. Heilung von Schrecken und Gewalt, Heilung unserer verletzten Seelen und verwundeten Gewissen. Viele dieser Nachrichten hören wir und nehmen sie kaum noch zur Kenntnis. Wir haben uns an Kummer und Leid gewöhnt, sind weitgehend abgestumpft. Und zur Zeit scheinen wir uns daran zu gewöhnen, dass Mütter ihre Kinder umbringen.

Jesus Christus, das Allheilmittel, auch für die schlechten und erschütternden Nachrichten eines Jahres? Er, der schon immer war und immer sein wird. Er sagt uns: Ich bin für euch da und ich werde für euch da sein. Ich werde für euch da sein, wenn ihr einen Zeitabschnitt beendet und einen neuen beginnt. Ich werde für euch da sein, wenn sich das alte Jahr neigt, wenn ihr zurückschaut auf das was gewesen ist, was euch Freude gemacht oder was euch Kummer bereitet hat. Ich werde für euch da sein, wenn ihr ein neues Jahr, einen neuen Lebensabschnitt beginnt.

Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Es geht nicht darum, dass wir Jesus als den in alle Ewigkeit Unveränderlichen preisen. Eine solche Eigenschaft ist den heidnischen Göttern zu eigen. Wir bekennen aber, das Jesus Christus heute der selbe ist, der er gestern war und in Ewigkeit bleiben wird. Und das bedeutet, dass er, der „Christus gestern“, der als Gottessohn, vor aller Zeit in der Herrlichkeit Gottes lebte, Mensch geworden ist. Oder wie die Bibel es ausdrückt, ins Fleisch gekommen ist, gekreuzigt wurde und damit die Erlösung einer verlorenen Welt erwirkt hat. Als der „Christus heute“ ist er der auferstandene Gottessohn, der als Hoherpriester zur Rechten Gottes thront und durch seinen Heiligen Geist in den Gläubigen wirkt um seine Gemeinde auf Erden zu sammeln und zu vollenden. Als „Christus der Ewigkeit“ ist er der wiederkommende Gottessohn, der sein ewiges Königreich in dieser Welt aufrichten wird.

Ich weiß: Unser Bekenntnis zu Jesus klingt in unserem Gottesdienst oft müde und freudlos. Im persönlichen Leben ist es oft kaum zu hören, es begegnet uns eher als Fisch auf unserem Auto oder als Kreuzanstecker.

Und trotzdem ist Jesus der, der unser Leben kennt. Unsere Gefühle der Freude, über Erfolg und Gelingen und unsere Dankbarkeit für Erreichtes. Aber auch unsere Erleichterung darüber, dass wir wieder ein Jahr geschafft haben.

Jesus kennt aber auch unsere Ungewissheit über den weiteren Weg, den unser Leben nehmen soll. Alle Ängste und Sorgen, die wir haben und die wir uns machen, um unsere Gesundheit, um unsere Lieben, um den Arbeitsplatz, die Kinder und Enkelkinder. Jesus kennt alles gelebte und ungelebte Leben, die genutzten und verpassten Chancen, unser Gelingen und unser Scheitern, unser Starksein und unser Schwachsein.

Das Leben, Leiden und Sterben Jesu nimmt auch das vergangene Jahr und das was es brachte mit auf. Jesu Leben hat Platz für unser Leben, mit allem was war. Sein Leiden trägt unsere Schuld und unsere Angst. Seine Auferstehung trägt den Grund für eine starke Hoffnung auf Zukunft über das vergehende und kommende Jahr hinaus.

Deutlich spricht der Apostel die Warnung aus, dass wir uns nicht durch fremde Lehren umtreiben lassen. In unseren Tagen haben wir es mit einem beinahe unübersehbaren religiösen Markt zu tun. Für jeden Geschmack ist etwas dabei. Für den, der Aktion und Events sucht genauso, wie für den, der in Meditation versinken will. Und es ist vieles dabei, das mit der Botschaft der Heiligen Schrift nicht mehr gedeckt ist. Manches Bibel- und Gottesverständnis ist nicht mehr geprägt von der Liebe Gottes zu den Menschen, sondern von Angst und großer innerer Not.

Wir sollten darum mit den Angeboten auf diesem „religiösen Markt“ achtsam umgehen und uns nicht treiben lassen. Fremde Lehren ziehen durchaus auch Mitglieder unserer Landeskirche in ihren Bann und es gibt Gemeindeglieder, die nehmen diese Angebote je nach Bedarf parallel zum Angebot ihrer Gemeinde in Anspruch. Es ist für mich ein wichtiges Kennzeichen eines unreifen und ungefestigten Christen, das sich in der Beeinflussbarkeit durch irrige Lehren zeigt. Die Reinheit und Klarheit des persönlichen Verhältnisses zu Christus und der untadelige Wandel des Christen ist wichtig, aber ebenso wichtig ist die eindeutige biblische Lehrbildung, die sich allein am Wort Gottes ausrichtet.

Ich denke Sie spüren, liebe Gemeinde, wie wichtig es ist, immer wieder und beständig unter das Wort Gottes zu kommen, damit unser Glaube fest wird. Damit er fest in Gottes Wort einwurzelt und unterscheiden lernt zwischen Lehre und Irrlehre.

Es gehört leider zu den notvollen Erscheinungen im Raum so mancher Gemeinden, dass immer wieder in den eigenen Reihen Menschen auftauchen, die „manigfaltige und fremde“ d.h. unrichtige Lehren verkündigen. Darum gelten allen Christen die Mahnungen der Bibel, festzuhalten an dem zuverlässigen Wort Gottes. Der Apostel mahnt uns und wir sollten es ernst nehmen: „Gib acht auf die Lehre!“

Trotzdem und trotz allem möchte ich Sie, liebe Gemeinde, an diesem letzten Abend des Jahres 2007 zu einem Leben in Gelassenheit und Heiterkeit aufrufen. Wir sind in Gottes Hand und in seiner Liebe geborgen. Und wir haben einen Gott, der uns das Lachen lehrt. Wir haben keinen griesgrämigen und humorlosen Gott. In der Gemeinde können wir Vergewisserung unseres Glaubens erfahren und finden. Denn in ihr ist das Erfahrungsfeld der Gnade, durch die das Herz fest wird. Der Gottesdienst ist der Ort, an dem sich Jesus mit denen trifft, die ihn als Herrn und Heiland bekennen und sie dadurch im Glauben gewiss macht.

So wird unser Herz fest. Und das ist etwas köstliches. Übrigens: Unsere Bibel hält viele solcher Köstlichkeiten für uns bereit. Vier dieser Köstlichkeiten will ich nennen: Erste Köstlichkeit – dem Herrn danken. Viele schaffen es nicht, Gott gegenüber ein dankbares Herz zu haben. Es sind Verletzungen vorhanden. Sie leben im Streit mit ihm, erklären ihn für schuldig. Dabei wäre so ein Abend am Ende eines Jahres wunderbar geeignet Gott zu danken, für alles was er an uns und an unseren Lieben Gutes getan hat.

Die zweite Köstlichkeit ist Gott loben. Wir wollen gerne gelobt werden. Gott möchte das auch. Er möchte, dass wir ihn um seinetwillen loben, weil er der ist, der Himmel und Erde geschaffen hat, weil er uns gewollt hat und weil wir in allem was wir tun, von seiner wunderbaren Schöpfung leben.

Die dritte und vierte Köstlichkeit: Geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. Ich weiß, es fällt uns schwer, das mit der Geduld. Na sagen wir: mir fällt es schwer. Aber dahinter steht das Vertrauen zu Gott, dass er die Dinge in seiner Hand hält und alles nach einem wunderbaren Plan macht. Wir dürfen geduldig sein und warten, weil er seinen herrlichen Plan an uns erfüllen wird.

So wollen wir an diesem letzten Abend des Jahres 2007 Gott danken für alle Bewahrung und allen Schutz den wir in dieser Zeit erfahren haben. Aber auch für seine Nähe und die Bewahrung des Friedens unter uns und unter den Völkern in Europa. Wir dürfen Gott danken, dass wir in Freiheit unseren Glauben leben dürfen.

Christus geht mit uns in das neue Jahr 2008. Seine Liebe hält uns fest und geht mit uns unseren Weg. Er will uns nahe sein, in allem was uns begegnet. Darauf dürfen wir fest vertrauen. Amen.

17.12.2007

Jahreslosung 2008


Jesus spricht: Ich lebe und ihr sollt auch leben. Johannes 14,19

Welch eine Verheißung: Ihr sollt leben! Jesus spricht uns das zu: Ihr sollt leben - auch wenn der Tod uns von allen Seiten anzugrinsen scheint. Der Tod der manchmal zum Freund werden kann, der aber für Leid und Schmerzen, für zerstörte Familien und Beziehungen, für Vermissen und Trauer verantwortlich ist, der Menschen erpressbar macht. Der Tod, der keinen Unterschied macht zwischen jung und alt - dem niemand entgeht.

Ihr sollt leben! Jesus kann uns das zusprechen, weil durch seinen Tod und seine Auferstehung die Machtverhältnisse klargestellt sind. Er hat den Sieg über den Tod, weil ihn Gott nicht im Tod gelassen und ihm alles übergeben hat. Gott will das Leben – auch dass der Sünder sich bekehrt und lebt.

Jesus sagt: Ihr lebt, weil ich lebe. Es ist also kein Naturgesetz, dass der Mensch nach seinem irdischen Tod in Ewigkeit weiterlebt. Unser weiterleben, unser ewiges Leben, ist an Jesus gebunden, an sein Leiden und Sterben und an seine Auferstehung. Die Bibel bezeugt denen, die an Jesus glauben dieses neue Leben in Gottes Herrlichkeit.

"Ich lebe!" Das konnte Jesus seinen Jüngern vorhersagen, als er sie auf sein Leiden und Sterben vorbereitete. Es sollte kein billiger Trost sein, sondern eine Kampfansage gegen die Mächte, die Tod und Verderben wollen. Leben, auch wenn man stirbt. Leben, endlich richtig leben. Endlich nicht mehr nach Vergänglichem haschen müssen, das uns oft vorgaukelt, dass es das Leben sei.

Leben, auch wenn wir eines Tages unsere Augen für immer schließen werden. Leben bei Gott, wo die sein werden, die dem Wort Jesu geglaubt haben: Ich lebe und ihr werdet auch leben!

Christ der Retter ist da! - Predigt zur Christnacht

Liebe Gemeindeglieder,

Kinder lieben Geheimnisse. Und sie lieben ganz besonders die Geheimnisse, die um Weihnachten herum gemacht werden. Es interessiert sie, was die Erwachsenen so geheimnisvoll reden, wenn es um das Fest geht. Ganz besonders interessant sind die Geheimnisse um die versteckten Geschenke. Das mit dem Christkind, das irgendwie dann doch ins Weihnachtszimmer kommt und die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legt, das scheint auch so ein unerklärbares Geheimnis zu sein.

Geheimnisse sind interessant. Es sind es nicht nur die Kinder, die Geheimnisse lieben. Auch Erwachsene üben sich darin, nicht zu verraten mit was sie, denen die sie lieb haben, eine Freude machen möchten.

Heute Abend haben wir es auch mit einem Geheimnis zu tun. Mit einem Geheimnis, das mit unserem Glauben zu tun hat. Es hat mit dem Kind in der Krippe zu tun. Es ist ein Geheimnis, das nicht so ohne weiteres zu verstehen ist. Es hat die Heilung der Welt zum Inhalt.

Groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.[1]

Der gerade gehörte Bibeltext ist ein Hymnus auf Christus – ein Lied auf Jesus. Und dieses Lied besingt nicht eine heile Welt, romantisch, mit Kerzenlicht in der warmen Stube, so wie wir Weihnachten feiern. Dieses Lied besingt den Vorgang der Heilung der Welt. Eine Welt, die im Grunde ihres Wesens total verdorben und verloren erscheint – eine Welt, in der die Starken auf Kosten der Schwachen leben – eine Welt des Kummers und der Tränen. Diese Welt soll geheilt werden. Welch eine Aufgabe, welch ein Unterfangen.

Auch wir haben Lieder. Ganz unterschiedliche Lieder. Unsere Lieder besingen Lebens- und Liebesgeschichten, Geschichten von Freude und Leid, Geschichten vom geboren werden und sterben. Und so wie unsere Lieder singen, so ist auch unser Leben: Es wird gefreit und geboren, es wird gearbeitet und gestorben. So pflanzt sich die Menschheit seit Anbeginn fort, so lebt sie schon immer. In dieser Menschheits- und Weltgeschichte finden wir Namen, die wir kennen, die sich herausheben, Namen, die in unseren Ohren klang haben, die Bleibendes vollbracht haben und es sind Namen, die nie jemand gehört hat.

Und dann gibt es andere Lieder, bessere Lieder, Lieder in der Sprache der Bibel: „HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel! Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen. Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht. HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen![2]

Das ist eine ganz andere Perspektive, als die unserer Lieder des Überlebenskampfes, des Elends und der Traurigkeit, des Hasses und der Gier. Im Grunde erzählt die ganze Bibel von dieser Spannung zwischen den Liedern, die unser Leben schreibt und dem Werben Gottes um den Menschen. Gott will uns Verlocken, in der Perspektive dieses Liedes aus Psalm 8, unser Leben zu gestalten. „Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name ...“. Das ist Leben in der Wirklichkeit eines von Gott bestimmten Lebens. Es ist anders als unsere Lebensrealität, die diese zarten Verlockungen Gottes immer wieder ausschlägt. Darum leben wir in einem dauernden Zwiespalt, die in unserer Lebensgeschichte aufklafft. Im Buch der Bücher, in seinem Neuen Testament, wird erzählt, wie Gott diese Kluft heilt. Und Weihnachten ist der Anfang der Heilung.

Groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Gott wird Mensch! Das ist die Nachricht von Weihnachten. Hier geschieht keine Vergottung eines Menschen, sondern Gott wird Mensch. Dass wir Menschen vergöttern, das ist nichts besonderes. Wir machen das mit unseren Idolen, mit Sportlern, Fußballspielern, Musikern, Schauspielern und anderen Künstlern, manchmal auch mit unserm Partner oder mit Freunden. Jesus ist keiner, der durch sein Leben, seine Heilungen und Wunder, Gottstatus erlangt hat. In Jesus ist Gott als Mensch geboren und damit uns Menschen nahe gekommen. In ihm verschmelzen Zeit und Ewigkeit, Himmel und Erde. Die Erde wird im Jesusgeschehen himmlisch und der Himmel wird irdisch.

Ich weiß, das ist für uns schwer zu verstehen – ein Geheimnis: Das Trennende, das was Gott und die Menschen trennt, das was die Menschen untereinander trennt und alles was daraus folgt für die Welt und die Gemeinde, das ist in Jesus überwunden. Es ist überwunden, wenn wir es Jesus hinlegen. Wenn wir es vor Jesus als Schuld bekennen und seine Heilung annehmen. Dass Jesus Mensch geworden ist, ist die Grundlage unsere Erlösung und für die Erlösung der gesamten Schöpfung Gottes. Jesus hat unser Fleisch, unsere Vergänglichkeit angenommen und wurde als Gottessohn zum Herrscher und König erhöht. Das feiern wir in dieser Nacht der Nächte: Jesus ist geboren. Christ der Retter ist da!

Wir feiern heute den Geburtstag Jesu und damit beginnt mit Weihnachten etwas Neues. Der Weg des Kindes von der Krippe zum Kreuz, was für uns Bedeutung hat, die über unser Leben hinausreicht. Am Kreuz wurde der Tod besiegt. Drei Tage später ist Christus auferstanden zu neuem Leben. Wir, die wir seinen Namen tragen, dürfen ihm nachfolgen. Gottes Kraft beginnt schon hier auf dieser Erde und fängt an uns zu verwandeln und zu verändern. Auch, und gerade an Weihnachten machen wir uns diese einzigartige Hoffnung wieder bewusst.

Das ist der Grund unserer Freude: Jesus ist geboren. Und weil wir uns freuen, darum feiern wir. Wir feiern das wohl größte Fest des Jahres, ein Fest, das uns im Inneren berührt wie kein anderes Fest. Ein Fest, das uns Hoffnung schenkt. Hoffnung, dass das nicht so in Ewigkeit bleiben wird, unser Leid und unser Elend, unser Getrenntsein von Gott und von den Menschen. Darin liegt der Grund, warum wir uns gegenseitig Geschenke machen. Wir geben unserer Freude Ausdruck.

Weihnachten ohne Christus ist nicht Weihnachten. Es mag zwar voller Pracht sein, voller Licht und gutem Essen, mit Tannenbaum und vielen Geschenken, aber es bleibt da innen im Herzen kalt und leer. Ein Fest ohne Inhalt, wie so viele Feste.

„Christ der Retter ist da!“ werden wir am Ende des Gottesdienstes gemeinsam singen und damit in diese Welt hinaustragen, was der Grund des Kommens des Kindes in der Krippe ist: Die Rettung des Menschen aus seiner Verlorenheit und aus seiner Gottesferne. Jesus hat durch sein Kommen die Tür zum Paradies wieder aufgesperrt, damit wir nicht verlorene, sondern gerettete Menschen sind. Amen.



[1] 1. Tim 3, 16

[2] Psalm 8

Freut euch! Der Herr ist nahe!

Liebe Gemeindeglieder,
liebe Kinder,

so ist das mit dem, was wir uns vornehmen. Es geht uns wie den drei Adventslichtern. Wir nehmen uns das vor, Frieden und Versöhnung, beim ersten kleinen Luftzug ist unser Vorsatz wie weggeblasen. Wir nehmen uns vor, in Zukunft Gott mehr zu vertrauen. Bei der erstbesten Schwierigkeit sind wir total verzagt und unser Vertrauen zu Gott ist dahin. Wir nehmen uns vor, Weihnachten nicht so oberflächlich zu erleben, besinnlicher zu sein, mehr auf Gott zu hören – wir wollen schauen, wo Gott uns begegnet, das haben wir uns wenigstens am 1. Advent vorgenommen - kaum sind wir im Alltag, dann sind unsere Vorsätze vergessen. Was uns bleibt ist die Hoffnung, dass es uns vielleicht doch irgendwann einmal gelingen wird.


Ich habe versprochen, euch heute wieder eine Geschichte mitzubringen. In dieser Geschichte geht es auch um Hoffnung. Die Schüler von Lehrer Eggimann führen ein Weihnachtsspiel auf und hoffen natürlich, dass alles in diesem Jahr ganz besonders gut klappt. So wie das unsere Hortkinder auch hoffen, die morgen ihr Weihnachtsspiel, hier in der Kirche, aufführen. Aber bei dem Weihnachspiel der Klasse von Herrn Eggimann da ... na hört selber, was da passiert ist.


In einer kleinen Schulgemeinde durften die Kinder die Weihnachtsgeschichte aufführen. Der Wirt des Gasthauses »Zum Löwen« stellte großzügig seinen Saal zur Verfügung. Die rund dreißig Schüler hatten ‑ von der ersten bis zur vierten Klasse alle zusammen denselben Lehrer und teilten dasselbe Zimmer. Das gibt es eben auch heute noch. Der Lehrer, Gottlieb Eggimann, wäre eigentlich schon lange pensioniert, aber mangels eines jüngeren Bewerbers ließ man ihn weiter im Amt. Ja, man liebte das Traditionelle in dieser kleinen Gemeinde; und zur Tradition gehörte auch die alljährliche Weihnachtsaufführung der Schüler.


Die tragenden Szenen ‑ seit Jahren dieselbe Geschichte: Maria und Josef auf der Suche nach einer Unterkunft für eine Nacht. Bei der Rollenverteilung rissen sich die größeren Jungen um die Hauptrolle, jeder wollte den Josef spielen. Aber auch die Mädchen drängten sich vor für die Rolle der Maria. Diplomatisch, so gut es eben ging, verteilte »Eggi«, wie der Lehrer im ganzen Dorf genannt wurde, die Rollen. Er führte selbstverständlich auch Regie. Nur bei einer Besetzung gab es Probleme, niemand wollte den bösen Gastwirt spielen, der dem jungen Paar so schroff den Eintritt in sein Gasthaus verwehrte und sie unbarmherzig wegjagte. So musste schließlich Roberto, der Sohn eines italienischen Gastarbeiterehepaares, welches im Restaurant »Zum Löwen« seit Jahren in der Küche arbeitete, die Rolle übernehmen. Er musste. Erstens, weil er noch nicht so gut deutsch sprach, und zweitens schien er mit seinem dunklen, gekrausten Haar und den dunklen Augen am ehesten einem Bösewicht zu gleichen. Das war auf alle Fälle die Meinung der halben Klasse.


Der kleine Roberto lernte seine Rolle schnell und gut. Lautstark schmetterte er an den Proben sein »Nein, von mir bekommt ihr kein Zimmer! Gesindel, verschwindet!« von der Bühne. Aber: Wie hasste der Kleine doch seine Rolle. Im Innersten würde er den beiden armen Geschöpfen Maria und Josef doch liebend gerne ein Zimmer geben und wenn es sein müsste - sogar sein eigenes. Doch, das hatte ihm der Lehrer eingefleischt: böse und mit grimmiger Miene sind die beiden wegzujagen. Ja, so ein kleiner Schauspieler hat es wirklich nicht leicht. Robertos Vater tröstete ihn und versprach, bei der Weihnachtsaufführung dabei zu sein. Und das bedeutete viel, denn er zeigte sich sonst kaum im Dorf.


Endlich war es so weit, der große Tag stand vor der Tür. Der kleine Saal war zum Bersten voll, viele mussten sogar stehen; einige zusätzliche Stühle holte man eiligst vom Restaurant »Bären« gegenüber. Mit leuchtenden Augen standen die Kinder in ihren selbst gemachten Kostümen da. Vor allem Maria strahlte; mit ihren Zapfenlocken war sie wunderschön anzusehen, denn die Mutter hatte sie am Nachmittag noch zum Friseur geschickt. Und wie sie spielten! Der Lehrer Eggimann wurde immer größer und stolzer; denn was seine Kinder auf der Bühne boten, war schlicht erstaunlich. Seit bald zwanzig Jahren hatte er nie mehr eine so hinreißende Aufführung miterlebt. Der Lehrer - und ein paar Dorfeinwohner mit ihm - bekam feuchte Augen.


Nun folgte der zweite Akt beim Gastwirt, bei Roberto. Und wie die Maria in ihren Zapfenlocken um ein Zimmer bat - es war zum Steinerweichen. Aber jeder wusste, was nun kommen musste; man hat es bei den Proben Dutzende Male gehört: »Nein, von mir bekommt ihr kein Zimmer! Gesindel! Verschwindet!« Roberto stand da mit grimmigem Blick und hörte das Klagen der Maria. »Ach, Wirt, habe Erbarmen, ich friere! Lass mich in dein Haus!« Roberto schaute immer grimmiger drein und setzte an, um seinen hundertmal geübten Satz in den Saal zu schmettern. Oh, wie er seine Rolle hasste; vor dem ganzen Dorf musste er Maria und Josef in die dunkle Nacht zurückschicken, ausgerechnet er. Doch plötzlich verschwand der dunkle Schatten von seinem Gesicht, ja, es begann förmlich zu leuchten. Und Roberto sagte mit fester Stimme: »Kommt nur herein, ich gebe euch mein bestes Zimmer!« Und bevor der Lehrer vor Schreck beinahe vom Stuhl fiel, fuhr der kleine Roberto fort: »Und zu essen bekommt ihr auch, so viel ihr wollt!« Und er griff Maria sanft bei der Schulter und wollte sie durch die Kulissentür in sein Gasthaus führen.


»Spinnst du?«, flüsterte die Maria deutlich hörbar dem Jungen zu, während Josef ein noch etwas unanständigeres Wort brauchte. Peinliche Sekunden vergingen, ehe der Lehrer endlich »Vorhang, Vorhang!« schrie. Der Vorhang wurde gezogen - die Weihnachtsaufführung war vorzeitig beendet.


»Der kleine Roberto hat es tatsächlich fertig gebracht, meine Aufführung platzen zu lassen«, wetterte der Lehrer später in der Gaststube. Roberto saß inzwischen mit verweinten Augen zu Hause und versuchte seinen Eltern das Malheur zu erklären. »Papa, ich konnte doch die beiden nicht einfach wegschicken, sie haben doch so gebettelt und waren so verzweifelt und schließlich ist doch Weihnachten!«


»Roberto, du magst ein schlechter Schauspieler sein, aber du bist ein wunderbarer Sohn!«, sagte der Vater leise und strich ihm sanft über das dunkle, gekrauste Haar ...[1]


„Du bist ein wunderbarer Sohn“, das hat sein Vater zu ihm gesagt. Ich glaube das hat den Roberto getröstet. Er war ein ganz feiner Junge, der auf sein Herz gehört hat – sogar in einem Theaterstück, wo er nur eine bestimmte Rolle zu spielen hatte. Ihm war in der Maria Gott begegnet. Er konnte sie nicht einfach wegschicken.


Ich bin sicher, dass uns in den vergangenen Wochen auch irgendwo Gott begegnet ist. Vielleicht in der Weise, dass wir bewahrt und beschützt geblieben sind – dass uns jemand weitergeholfen hat, wo wir nicht mehr weiterwussten – dass wir für jemanden ein tröstendes Wort hatten ...


Morgen feiern wir Weihnachten – endlich. Ich wünsche uns, dass wir so feiern, wie wir den Geburtstag eines lieben Menschen feiern, der an seinem besonderen Tag auch im Mittelpunkt stehen darf. Lasst uns das nicht nur vornehmen, sondern auch tun, damit uns nicht wieder nur die Hoffnung bleibt, dass es uns irgendwann schon mal gelingen wird.


Freut euch im Herrn allezeit und abermals sage ich: Freut euch! Der Herr ist nahe!“ Das ist der Wochenspruch für den 4. Advent. Wir werden aufgefordert uns zu freuen. Nicht über die Geschenke und die Weihnachtsgans. Wir sollen uns freuen, weil der Herr nahe ist. Damit ist nicht nur das Fest gemeint, das jetzt so nahe ist und bei dem wir seine Geburt im Stall von Betlehem feiern.

Jesus ist uns alle Tage nahe, in seinem Wort und mit seinem guten heiligen Geist. Wir sollten nicht vergessen: Jesus ist der Kommende. Wir warten auf sein Wiederkommen. Niemand weiß wann es sein wird. Aber er wird kommen, ganz überraschend – und dann wollen wir bereit sein. „Freut euch im Herrn allezeit und abermals sage ich: Freut euch! Der Herr ist nahe!“ Amen.



[1] Das Wunder dieser Nacht – Herder-Verlag Seite 65 - Roberto spinnt von Bruno Schlatter

13.12.2007

Weihnachtsbrief 2007


Liebe Geschwister,
liebe Freunde,

fast möchte ich meinen Brief beginnen wie alle Jahre: „... und wieder ist ein Jahr vorüber, ein Jahr unseres Lebens. Wir stehen an der Schwelle eines neuen Jahres. Niemand von uns weiß, wie viele neue Jahre ihm noch geschenkt sind“.

Ich empfinde Weihnachten und Jahreswechsel als einen Einschnitt im Wandern durch die Zeit. Sie sind so etwas wie eine kurze Pause, ein Abschließen, ein kurzes Niederlegen der Arbeit, der Gedanken. Atemholen und dann ein Neubeginn – ein neues Jahr. Solch ein Einschnitt lädt ein Zurückzuschauen, um dann den Blick wieder mutig nach vorne zu wenden.

Was war es, was ins in diesem Jahr besonders bewegt hat?

An erster Stelle möchte ich die Geburt unserer Enkeltochter Dorothea nennen, die am 10. Juni geboren wurde. Sie ist unser dritter Enkel. Als Sabine, die ältere Schwester, zum ersten Mal das Neugeborene sah, war das irgendwie ein atemberaubender, ich würde sagen, fast religiöser Vorgang. Sabine stand vor ihrer Mutter, die mit der kleinen Dorothea auf dem Arm vor ihr kniete und betrachtete minutenlang das kleine, neugeborene Kind - staunend, als könnte sie es nicht fassen. Es herrschte atemlose Stille, während Sabine das Bild des kleinen Kindes (das nun ihre Schwester sein sollte und auf die sie sich schon so gefreut hatte) geradezu in sich einsog. Wie gerne hätte ich gewusst, was in diesen Minuten in Sabines Kopf vor sich ging.

Unwillkürlich musste ich an die Hirten von Bethlehem denken, die vor dem Kind in der Krippe knieten und es nicht fassen konnten, was da geschehen ist. Gott wird Mensch! Und ausgerechnet bei ihnen im Stall. Ja, das kann uns fassungslos machen: Gott ist da! Bei uns, bei dir und bei mir und dort, wo niemand mit ihm zu tun haben will – auch bei denen, die ihm aus dem Weg gehen.

Ein tiefer Einschnitt für mich war, dass ich zwei Mal in einem Monat mit Vorhofflimmern in ärztliche Behandlung musste. Zuerst in das Nürnberger Südklinikum und dann ambulant in eine besonders ausgestattete kardiologische Praxis. Dort wurde in Kurznarkose, die nur wenige Minuten dauerte, per Elektroschock mein Herz wieder in den richtigen Schlag gebracht. Dieser schmerzfreie Eingriff löste bei mir psychische Reaktionen aus, die ich bisher nur von Menschen kannte, denen nach Unfall oder Schlaganfall der Kopf geöffnet werden musste. Ich fühlte mich an meinem Lebensnerv getroffen und tief im Innersten verunsichert. Es waren für mich einige Wochen harte Arbeit, bei der mir eine befreundete Psychiaterin half, um damit klar zu kommen.

Vor ein paar Wochen nahm ich, für Radio F in Nürnberg, folgenden Beitrag für ein besinnliches Wort auf: Cristin kam nach ihrer Geburt ins Säuglingsheim. Mit drei Jahren wurde sie adoptiert. Endlich hatte sie ein Zuhause. Als sie 12 war starb die Adoptiv-Mutter an einer schweren Krankheit. Für Cristin brach die Welt zusammen. Sie bat ihren Vater, in dieser schweren Nacht bei ihr zu bleiben und sie nicht allein zu lassen. Er ging weg. Auch Cristin verließ das Haus. Sie ging und betrank sich. Und weil das nicht gegen den Schmerz in ihrem Herzen half, nahm sie Drogen. Sie fühlte sich elend, verlassen, zuerst gewollt und dann weggeworfen. Zehn Jahre brachte sie mit Zigaretten, Alkohol und Drogen zu. Und weil Drogen Geld kosten, ging sie Anschaffen. Sie ertrug ihre geilen Freier ebenso, wie ihre brutalen Zuhälter. Der Ekel über ihr Leben ließ ihr nur noch die Wahl zwischen dem „Goldenen Schuss“ und einer Therapie.

In der Therapie lernte sie den kennen, der nicht wegwirft. Der auch dort ist, wo Elend und Versagen ist. Den, der Neues schaffen kann. Sie fand bei ihm Hilfe, wenn das Verlangen nach Alkohol und Drogen in ihr mächtig wurde und sie sich nach ihr ihrer Vergangenheit sehnte, wo scheinbar alles so cool und leicht war, weil ihr die Drogen den Verstand vernebelten.

Cristin ist seit Jahren ohne Zigaretten, Alkohol, Drogen und Sex. Sie hat Halt in Jesus. Gottes Wort hat in ihrem Herzen eine offene Tür gefunden. Staunend erlebt sie, wie ihr altes Leben Stück für Stück stirbt. Ihre Gewaltausbrüche und die Wut auf sich selbst, machen zunehmend der Liebe, die von Gott kommt, Platz. Gottes liebevolle Barmherzigkeit hat ihr ein neues, von Gott gesegnetes Leben geschenkt.

Ich habe Cristin auf der christlichen Internetplattform Glaube.de kennengelernt, bei der ich, im Rahmen meiner beschränkten zeitlichen Möglichkeiten, als Mitarbeiter tätig bin. Damals hatte Cristin nur einen Wunsch: Ich möchte einen Vater, eine Familie haben. Inzwischen gehört sie zu unserer Familie. Sie wohnt zwar in Lüdenscheid in einer christlichen Wohngemeinschaft, kommt aber, so oft es ihr möglich ist, zu uns nach Nürnberg. Auch Holger und Elisabeth und die Kinder haben sie ins Herz geschlossen. Im September haben wir gemeinsam mit Freunden von Glaube.de ihren 30. Geburtstag gefeiert, mit einer Dankandacht, die sie sich von ganzem Herzen gewünscht hatte und einer anschließenden Feier in einem Lokal. Sie wollte unbedingt an diesem Tag mit Freunden Gott danken, denn sie hätte den 25. Geburtstag wohl nicht überlebt, wenn ER sie nicht aus ihrem Elend herausgeholt hätte.

Das waren wohl die für uns wichtigsten und bewegendsten Ereignisse des Jahres 2007. Gott hat über uns seine Hände gehalten und uns in großer Liebe und Treue Menschen anvertraut, worüber wir sehr dankbar sind.

Wir wünschen Euch allen ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein von Gott bewahrtes Jahr 2008.

29.11.2007

Gott kommt zu uns

Liebe Kinder,
liebe Gemeindeglieder,


Ankunft. Großer Bahnhof, großer Empfang für Jesus. Alle jubeln ihm zu. Hosianna schreien sie, so wie wir das vorhin von den Hortkindern gespielt gesehen haben. Hosianna, das heißt: „Hilf doch Herr“. Sie wollten Hilfe, weil sie gespürt haben, dass es in ihrem Herzen dunkel war. Da war Furcht und Angst, denn ihr Land war von einer fremden Macht besetzt, von den Römern. Manchmal ist es auch in unseren Herzen dunkel, weil wir Sorgen haben oder weil wir etwas angestellt haben. Wenn es in unseren Herzen dunkel ist, dann fühlen wir uns nicht wohl und brauchen Hilfe.

Heute ist der 1. Advent. Und damit beginnt die Adventszeit, vier Sonntage lang. In dieser Zeit bereiten wir uns vor, dass Jesus auch bei uns einzieht – in unser Herz, damit es dort ganz hell wird, denn er kann uns helfen.

In drei Wochen feiern wir Weihnachten. Wir wünschen uns, dass an Weihnachten unsre Herzen ganz hell sind – nur Freude und Liebe zueinander soll darin Platz haben, denn an diesem Tag feiert Jesus Geburtstag. Und weil wir uns so freuen schenken wir uns gegenseitig etwas. Manche überlegen immer noch was sie dem anderen schenken könnten. Es ist ja gar nicht so leicht, etwas zu finden was dem andern Freude macht.

Ich habe euch eine Geschichte mitgebracht. Vielleicht kann die ein wenig dazu helfen, wie so ein Geschenk aussehen kann. Es ist die Geschichte vom Schuster Konrad, der etwas eigentümliches erlebt hat und am Schluss selbst ganz erstaunt war und ein großes Geschenk bekommen hat.

SCHUSTER KONRAD

An diesem Morgen war Konrad, der Schuster, schon sehr früh aufgestanden, hatte seine Werkstatt aufgeräumt, den Ofen angezündet und den Tisch gedeckt. Heute wollte er nicht arbeiten. Heute erwartete er einen Gast. Den höchsten Gast, den ihr euch nur denken könnt. Er erwartete Gott selber. Denn in der vorigen Nacht hatte Gott ihn im Traum wissen lassen: Morgen werde ich zu dir kommen. Nun saß Konrad also in der warmen Stube am Tisch und wartete und sein Herz war voller Freude. Da hörte er draußen Schritte und schon klopfte es an der Tür. »Da ist er«, dachte Konrad, sprang auf und riss die Tür au£

Aber es war nur der Briefträger, der von der Kälte ganz rot und blau gefrorene Finger hatte und sehnsüchtig nach dem heißen Tee auf dem Ofen schielte. Konrad ließ ihn herein, bewirtete ihn mit einer Tasse Tee und ließ ihn sich aufwärmen. »Danke«, sagte der Briefträger, »das hat gut getan.« Und er stapfte wieder in die Kälte hinaus.

Sobald er das Haus verlassen hatte, räumte Konrad schnell die Tassen ab und stellte saubere auf den Tisch. Dann setzte er sich ans Fenster, um seinem Gast entgegenzusehen. Er würde sicher bald kommen. ‑ Es wurde Mittag, aber von Gott war nichts zu sehen.

Plötzlich erblickte er einen kleinen Jungen und als er genauer hinsah, bemerkte er, dass dem Kleinen die Tränen über die Wangen liefen. Konrad rief ihn zu sich und erfuhr, dass er seine Mutter im Gedränge der Stadt verloren hatte und nun nicht mehr nach Hause finden konnte. Konrad legte einen Zettel auf den Tisch, auf den er schrieb: »Bitte, warte auf mich. Ich bin gleich zurück!« Er ließ seine Tür unverschlossen, nahm den Jungen an die Hand und brachte ihn nach Hause.

Aber der Weg war weiter gewesen, als er gedacht hatte, und so kam er erst heim, als es schon dunkelte. Er erschrak fast, als er sah, dass jemand in seinem Zimmer am Fenster stand. Aber dann tat sein Herz einen Sprung vor Freude. Nun war Gott doch zu ihm gekommen.

Im nächsten Augenblick erkannte er die Frau, die oben bei ihm im gleichen Haus wohnte. Sie sah müde und traurig aus. Und er erfuhr, dass sie drei Nächte lang nicht mehr geschlafen hatte, weil ihr kleiner Sohn Petja so krank war, dass sie sich keinen Rat mehr wusste. Er lag so still da und das Fieber stieg und er erkannte die Mutter nicht mehr. Die Frau tat Konrad Leid. Sie war ganz allein mit dem Jungen, seit ihr Mann verunglückt war. Und so ging er mit. Gemeinsam wickelten sie Petja in feuchte Tücher. Konrad saß am Bett des kranken Kindes, während die Frau ein wenig ruhte. Als er endlich wieder in seine Stube zurückkehrte, war es weit nach Mitternacht. Müde und über alle Maßen enttäuscht legte sich Konrad schlafen. Der Tag war vorüber. Gott war nicht gekommen.

Plötzlich hörte er eine Stimme. Es war Gottes Stimme. »Danke«, sagte die Stimme, »danke, dass ich mich bei dir aufwärmen durfte - danke, dass du mir den Weg nach Hause zeigtest danke für deinen Trost und deine Hilfe ich danke dir, Konrad, dass ich heute dein Gast sein durfte.«

Maria Lorentz


Erster Advent ist heute. Heute beginnt die Zeit, in der auch wir warten, wie Schuster Konrad, dass Gott zu uns kommt und bei uns einzieht. Wir warten auf Weihnachten, wir warten auf Jesus, wir warten auf die liebevoll ausgesuchten Geschenke. Manche können das schon fast nicht mehr aushalten.

Schuster Konrad wurde von Gott besucht. Er hat es gar nicht gemerkt, dass Gott da war, in dem Postboten, der gefroren hatte, in dem Kind das sich verlaufen hatte und in der Frau, die die Sorge um ihr Kind nicht schlafen ließ.

Vielleicht müssen wir nur unsre Augen weiter aufmachen, damit auch wir sehen können, wenn uns Gott begegnet. Es wäre doch eine gute Idee, wenn wir in den nächsten drei Wochen ganz bewusst die Augen offen halten und nach Gott Ausschau halten. Manchmal begegnet er uns - ganz anders als wir uns das vorstellen. Vielleicht entdecken wir ihn, mitten in unserem Alltag. Nur ein kleiner Tip: Wenn uns Gott begegnet, wenn er in unsere Herzen einzieht, dann wird es da innen ganz hell.

Nach dem nächsten Lied werden wir unseren Adventskranz schmücken. Dieses Jahr mit vielen süßen Sachen. Natürlich fehlen auch die Kerzen nicht. Wir werden jeden Sonntag eine Kerze mehr anzünden. Und wenn dann alle vier Kerzen brennen, am 4. Advent, dann werden wir uns wieder hier treffen und schauen wo uns Gott in den drei Wochen begegnet ist. Ich werde wieder eine Geschichte mitbringen, und – wir werden die süßen Sachen wieder vom Adventskranz nehmen und an die Kinder, die an dann hier im Gottesdienst sind, verteilen. Ihr seid also herzlich eingeladen zum Familiengottesdienst am 4. Advent, das ist am Tag vor dem Heiligen Abend.

Die Ansprache wurde von mir im Familiengottesdienst am 1. Advent 2007 gehalten

27.11.2007

Die Schiedsrichter

Sportplatz. Tausende sitzen auf den Rängen und sehen zu. Elf Spieler kämpfen auf dem Spielfeld. Die auf dem Rängen sind alle Schiedsrichter, wissen genau was die da unten falsch machen. Wenn die Elf gewinnt, dann haben wir gewonnen, wenn sie verliert, dann jagt man den Trainer davon.
So geht es auch in unseren Gemeinden. Da sind Zuschauer, viele Zuschauer, aber kaum jemand spielt mit. Alle wissen wie es besser geht, was die Spieler falsch machen. Die Gemeinden brauchen Spieler, keine Zuschauer oder Schiedsrichter.


nach Peter Hahne, ZDF Moderator, bei einem Vortrag in Fürth St. Paul am 26.11.2007

22.11.2007

Straßenkinder in Deutschland

Es ist kalt geworden in Deutschland.

Der Schnee hat unsere Ortschaft mit einer dicken weißen Schicht zugedeckt.

Vor wenigen Stunden kamen meine Kinder mit roten Nasen, kalten Händen und strahlenden Augen vom Schneehaus bauen nach Hause. In Akkordzeit wurden alle nassen Schneesachen ausgezogen und in die Ecke geworfen. Und noch schneller standen meine kleinen Räuber in der Küche, wo der heiße Kinderpunsch schon bereit stand. Eine Hand voll Kekse und eine Tasse Kinderpunsch, dazu drei leuchtende Kinderaugenpaare.

Jetzt ist es nach 24 Uhr. Meine Kinder liegen im warmen Bett. Bis zur Nasenspitze zugedeckt und schöpfen Energie für den neuen Tag.

Meine Gedanken wandern weg von meinen eigenen Kindern. Sie wandern hin zu den Kindern und Jugendlichen, die jetzt irgendwo im Freien sitzen und frieren. Deren Magen knurrt. Die ihre Restenergie benötigen, um diese Nacht zu überstehen. Meine Gedanken gleiten zu den Straßenkindern dieser Welt.

Jeder weiß, dass es sie gibt. Die Weltgesundheitsorganisation redet von ca. 33 Millionen, andere Organisationen von bis zu 100 Millionen Straßenkindern weltweit. Erschreckende Zahl. Und doch soweit weg. Indonesien, Afrika, Russland, Asien... schlimm, was in anderen Ländern so geschieht. Ein Glück leben meine Kinder in Deutschland, möchte ich gerade fertig denken, als mein Gedanke in diesem Gedanken stecken bleibt.

Straßenkinder in Deutschland, direkt vor meiner Tür.

Keine fünfzig Kilometer von meiner Wohnungstür entfernt gibt es sie. An die 600 Jugendliche und junge Erwachsene leben in und um Stuttgart mehr auf der Straße als Zuhause. Manche von ihnen leben ganz auf der Straße oder in Abbruchhäusern. Etwa 20 von ihnen stehen momentan vor der absoluten Obdachlosigkeit. Wenn diese Zahlen nur Stuttgart betreffen, wie hoch sind wohl die Zahlen bundesweit?

Und auch wenn die Straßenkinder Deutschlands nicht mit den Kindern der Straße Afrikas zu vergleichen sind, leben sie dennoch aus derselben Gleichung:

Die erlebte Not, der Weg hin zur Straße.

Die Straße ihr Zuhause.

Die Freunde ihre Familie.

Ich halte meine heiße Tasse Tee in den Händen. Beobachte leise ein paar Kerzen bei ihrem Lichtertanz. Der Raum ist von einer wohligen Wärme durchtränkt. Die Kälte des Winters hat keine Chance, in mein Haus einzuziehen. Und doch begegnet mir die Wahrheit, dass es kalt geworden ist in Deutschland.

Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, wenn wir unsere Augen verschließen möchten. Wenn unsere Ohren sich davor schützen wollen. Es gibt Euch, Euch Kinder der Straße. Und Euch begegnet eine Kälte, die Ihr nicht verdient habt.


Was treibt sie auf die Straße?


Eure erlebte Not hat Euch auf die Straße getrieben und zieht jeden Tag neue Jugendliche dorthin. Ist es wichtig, in welche Notkategorie jeder Einzelne von Euch eingestuft wird?

Vielleicht gehörst Du zu der Personengruppe, die täglich soviel seelische und körperliche Gewalt erfährt, dass Dein Zuhause Dir keine Zuflucht, keine Sicherheit schenkt. Vielleicht hast Du Angst nach Hause zu gehen. Dorthin wo Schläge, Missbrauch, Qual und Leid auf Dich wartet.

Vielleicht gehörst Du zu denen, die dem Leistungsdruck der Eltern nicht standhalten. Du erlebst das Gefühl, gar nicht die Chance zu bekommen, Dein Leben leben zu können. Weil man Dich wie eine Marionette benutzt. Weil man ganz genau weiß, was scheinbar gut und richtig für Dich ist. Welche Ziele Du zu erreichen hast. Ohne gefragt zu werden, ob Du dieses Leben, diese Ziele möchtest. Ob es Deine Ziele, Deine Wünsche und Deine Sehnsüchte sind.

Vielleicht gehörst Du zu denen, die von Kinderarmut betroffen sind. Und Dein Gang zur Straße gleicht einer Flucht vor dieser Realität, die diese neue Armut in Deutschland mit sich bringt.

Vielleicht wurdest Du auch von Deinen Eltern vor die Tür gesetzt. Weil man Zuhause Platz benötigte. Platz für Deine Geschwister, den neuen Partner. Platz, den Du in Anspruch genommen hast.

Vielleicht hat man Dir auch zur Volljährigkeit die Wohnungstüre von Außen gezeigt. Weil Du anscheinend der Grund für die Not und die Zwietracht innerhalb der Familie warst. Weil Du Deiner Familie Probleme machst.

Vielleicht gehörst Du auch zu den Wohlstandsübersättigten. Wurdest gemästet mit käuflichen Dingen. An Äußerlichkeiten überfressen, dennoch innerlich verhungert. Weil kein Spielzeug der Welt den Hunger nach Liebe stillen kann. Und Deine Eltern, Dein Umfeld nicht verstanden haben, dass ein Gameboy nicht innerlich erwärmt, keine Geborgenheit schenkt.

Vielleicht gehörst Du zu denen, die immer Zuhause alles durften. Deren Eltern meinten, dass Liebe keine Grenzen aufzeigt. Und Dein Gang auf die Strasse gleicht einem Hilferuf an Deine Eltern, Dir endlich einmal Grenzen aufzuzeigen. Grenzen der Liebe, die Dir Halt schenken können.


Straßenkinder sind mutige Kinder


Vielleicht gehörst Du auch in keine der genannten Kategorien.

Doch im Grunde ist es auch unwichtig, ob Du in eine Sparte gepresst werden kannst oder nicht.

Eines wird mir bewusst. Jedes Straßenkind, jeder von Euch ist ein sehr mutiges Kind, ein mutiger Jugendlicher, junger Erwachsener. Ihr tut genau das, was die wenigsten von uns tun. Ihr wehrt Euch. Ihr schreit Euer NEIN in die Welt hinein.

Ein NEIN zu all dem Schmerz, der Euch zugefügt wird. Ein NEIN zu der Not die Euch täglich Zuhause begegnet.

Ihr kämpft mit Euren Mitteln. Weil Ihr niemanden um Euch habt, der für Euch streitet, der für Euch eintritt, der für Euch kämpft, kämpft Ihr für Euch selber.

Ihr seid das große, laute NEIN zu all den Missständen, Verletzungen, Leiden ... mit denen unsere ganzen Kinder konfrontiert werden. Und dieses NEIN wir nur zu gerne überhören möchten.

Aber Ihr seid sehr starke Persönlichkeiten. Jeder Einzelne von Euch ist ein Bündel voller Mut. Keiner von Euch hat es verdient, dass Andere auf Euch verachtend herabblicken. Niemand hat das Recht Euch Eure Würde abzusprechen.

Ja, manche von Euch nehmen Drogen. Manche von Euch tun Dinge, die vor dem Gesetz nicht in Ordnung sind. Manche von Euch verkaufen ihren Körper. Ja, auch das ist die Wahrheit.

Aber die grundlegende Wahrheit ist, dass dies alles und viel mehr nur die Folgen sind. Und nicht die Ursache. Die Folgen für unser Wegsehen. Für unser Schweigen. Die Folgen Eurer Not, die keiner von den großen, starken Menschen um Euch beachtet hat.

Ob wir kleinen Leute dieser Gesellschaft es schaffen können diese Ursachen zu beseitigen?

Ich weiß es nicht.


Ohnmacht und Wut


Die Ohnmacht meldet sich zu Wort und mit ihr die Wut. Weil der Staat wieder einmal wegsieht.

Weil Hilfeleistungen gekürzt werden. Was nicht sein darf, gibt es nicht. „In Deutschland gibt es keine Straßenkinder. Wir haben nicht solche Zustände wie Russland.“

So hört man es doch immer wieder.

Ja, vermutlich habt Ihr alle eine Anschrift. Die meisten Eurer Eltern haben einen Wohnsitz und dadurch auch Ihr. Es gibt zur Not ja Jugendheime, die Euch auffangen können, wenn das Zuhause kein Zuhause bietet.

Aber selbst wenn dies alles die Wahrheit ist. Bedeutet ein Schlafplatz, ein Dach über dem Kopf ein Zuhause? Kann ein Jugendheim eine gesunde Familie, eine Heimat ersetzen?

Ich weiß nicht, wie man diese Ursachen beseitigen kann. Aber ich weiss, dass wir es schaffen können, Euch in Eurem jetzigen Sein zu unterstützen.

Es liegt an jedem Einzelnen von uns, wie wir Euch begegnen. Ob wir auf die Folgen oder auf die Ursachen blicken möchten. Wir entscheiden darüber, ob wir hinsehen oder wegsehen möchten.

Ihr habt Nein gesagt zu Dingen, die Euch hindern, Eure Ziele zu verwirklichen. Ein anderes, besseres Leben. Ein Leben das den Namen desjenigen trägt, der es auslebt.

Ein lautes NEIN wegen des JA´s zum Leben.

Und wieder wandert mein Blick hin zu den tanzenden Kerzenlichtern. Die Hilflosigkeit möchte in mir einziehen. Weil ich so gerne helfen möchte und nicht weiss wie. Ich fühle mich so klein gegenüber den Missständen unserer Welt. Und ich erlebe das Gefühl, wie die Kälte Deutschlands doch langsam in mein Sein wandert.

Aber halt, ihr düsteren Gedanken der Nacht! Nicht jeder überhört dieses NEIN. Und manche hören sogar dieses JA hinter dem NEIN. Dieses JA zum Leben. Auch wenn dieses JA fast in der Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit versunken ist.


Wer hilft?


In den meisten Großstädten gibt es Organisationen, die sich für die Kinder der Straße einsetzen. Da gibt es Menschen die hinsehen. Die ihre Hände austrecken und ganz praktisch helfen möchten und tun. Diese Menschen wissen, ein Frühstück am Morgen, die Möglichkeit zu duschen, ein Notschlafplatz... verändert nicht Euer jetziges Leben. Aber ein warmes Essen macht satt. Eine Anlaufstelle ersetzt kein Zuhause, aber sie verschafft die Möglichkeit der Begegnung, des Austausches, der Hilfe. Nicht immer alles alleine durchstehen müssen, da es dort eine Hand voll Menschen gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Euch ein Stück zu begleiten. Die Euch dabei unterstützen möchten, dass aus Euren fast verschwundenen Träumen wieder Ziele werden. Eure Träume, nicht die Träume, die ein anderer für Euch sich erträumt. In diesen Anlaufstellen geht es um Euch. Endlich einmal nur um Euch.

Und so denke ich an die Anlaufstelle "Schlupfwinkel", die in Stuttgart ansässig ist. Ein Schlupfwinkel der wirklich Unterschlupf bietet. Der genau diese Dinge tut, die jemand tun muss und die keiner von uns so richtig tun will. Weil sich niemand von uns dafür verantwortlich fühlt.

Drei hauptamtliche und mehrere ehrenamtliche Mitarbeiter tun dort das, worüber wir reden. Wozu wir verpflichtet wären, weil es um unsere Kinder geht.

Im Schlupfwinkel gibt es Menschen, mit denen Ihr reden könnt. Die Euch helfen können. Die mit Euch gemeinsam den Weg gehen möchten, dass Euer lautes NEIN nicht umsonst war. Deren Ziel es nicht ist, Euch nur schnell weg von der Strasse zu holen, damit unsere Strassen wieder schöner werden. Sondern die mit Euch einen Weg weg von der Strasse finden möchten, damit Ihr nicht nur überlebt sondern lebt.

Auch wenn Schlupfwinkel kein Zuhause ersetzen kann. So bedeutet doch der Schlupfwinkel eine Oase der Heimat. Ein Ort der Zuflucht. Der aktiven, guten Hilfe.

Wir kleinen Menschen dieser Gesellschaft, wir können vermutlich wirklich die große weite Welt nicht verändern.

Aber wir können die Welt vor und hinter unserer Türe verändern. Wir können hinsehen, wo andere wegsehen. Wir können unsere Türen öffnen, für Menschen, die sonst nur vor verschlossene Türen stehen. Wir können finanziell die Anlaufstellen unterstützen, damit sie weiter ihren Dienst für die Kinder unserer Strasse tun können. Wir können so viel tun. Die große, weite Welt beginnt genau da, wo wir stehen und leben.

Ja, es ist kalt geworden in Deutschland. Doch wir können dazu beitragen, dass sich Deutschland wieder erwärmt

Michaela Ender