29.11.2007

Gott kommt zu uns

Liebe Kinder,
liebe Gemeindeglieder,


Ankunft. Großer Bahnhof, großer Empfang für Jesus. Alle jubeln ihm zu. Hosianna schreien sie, so wie wir das vorhin von den Hortkindern gespielt gesehen haben. Hosianna, das heißt: „Hilf doch Herr“. Sie wollten Hilfe, weil sie gespürt haben, dass es in ihrem Herzen dunkel war. Da war Furcht und Angst, denn ihr Land war von einer fremden Macht besetzt, von den Römern. Manchmal ist es auch in unseren Herzen dunkel, weil wir Sorgen haben oder weil wir etwas angestellt haben. Wenn es in unseren Herzen dunkel ist, dann fühlen wir uns nicht wohl und brauchen Hilfe.

Heute ist der 1. Advent. Und damit beginnt die Adventszeit, vier Sonntage lang. In dieser Zeit bereiten wir uns vor, dass Jesus auch bei uns einzieht – in unser Herz, damit es dort ganz hell wird, denn er kann uns helfen.

In drei Wochen feiern wir Weihnachten. Wir wünschen uns, dass an Weihnachten unsre Herzen ganz hell sind – nur Freude und Liebe zueinander soll darin Platz haben, denn an diesem Tag feiert Jesus Geburtstag. Und weil wir uns so freuen schenken wir uns gegenseitig etwas. Manche überlegen immer noch was sie dem anderen schenken könnten. Es ist ja gar nicht so leicht, etwas zu finden was dem andern Freude macht.

Ich habe euch eine Geschichte mitgebracht. Vielleicht kann die ein wenig dazu helfen, wie so ein Geschenk aussehen kann. Es ist die Geschichte vom Schuster Konrad, der etwas eigentümliches erlebt hat und am Schluss selbst ganz erstaunt war und ein großes Geschenk bekommen hat.

SCHUSTER KONRAD

An diesem Morgen war Konrad, der Schuster, schon sehr früh aufgestanden, hatte seine Werkstatt aufgeräumt, den Ofen angezündet und den Tisch gedeckt. Heute wollte er nicht arbeiten. Heute erwartete er einen Gast. Den höchsten Gast, den ihr euch nur denken könnt. Er erwartete Gott selber. Denn in der vorigen Nacht hatte Gott ihn im Traum wissen lassen: Morgen werde ich zu dir kommen. Nun saß Konrad also in der warmen Stube am Tisch und wartete und sein Herz war voller Freude. Da hörte er draußen Schritte und schon klopfte es an der Tür. »Da ist er«, dachte Konrad, sprang auf und riss die Tür au£

Aber es war nur der Briefträger, der von der Kälte ganz rot und blau gefrorene Finger hatte und sehnsüchtig nach dem heißen Tee auf dem Ofen schielte. Konrad ließ ihn herein, bewirtete ihn mit einer Tasse Tee und ließ ihn sich aufwärmen. »Danke«, sagte der Briefträger, »das hat gut getan.« Und er stapfte wieder in die Kälte hinaus.

Sobald er das Haus verlassen hatte, räumte Konrad schnell die Tassen ab und stellte saubere auf den Tisch. Dann setzte er sich ans Fenster, um seinem Gast entgegenzusehen. Er würde sicher bald kommen. ‑ Es wurde Mittag, aber von Gott war nichts zu sehen.

Plötzlich erblickte er einen kleinen Jungen und als er genauer hinsah, bemerkte er, dass dem Kleinen die Tränen über die Wangen liefen. Konrad rief ihn zu sich und erfuhr, dass er seine Mutter im Gedränge der Stadt verloren hatte und nun nicht mehr nach Hause finden konnte. Konrad legte einen Zettel auf den Tisch, auf den er schrieb: »Bitte, warte auf mich. Ich bin gleich zurück!« Er ließ seine Tür unverschlossen, nahm den Jungen an die Hand und brachte ihn nach Hause.

Aber der Weg war weiter gewesen, als er gedacht hatte, und so kam er erst heim, als es schon dunkelte. Er erschrak fast, als er sah, dass jemand in seinem Zimmer am Fenster stand. Aber dann tat sein Herz einen Sprung vor Freude. Nun war Gott doch zu ihm gekommen.

Im nächsten Augenblick erkannte er die Frau, die oben bei ihm im gleichen Haus wohnte. Sie sah müde und traurig aus. Und er erfuhr, dass sie drei Nächte lang nicht mehr geschlafen hatte, weil ihr kleiner Sohn Petja so krank war, dass sie sich keinen Rat mehr wusste. Er lag so still da und das Fieber stieg und er erkannte die Mutter nicht mehr. Die Frau tat Konrad Leid. Sie war ganz allein mit dem Jungen, seit ihr Mann verunglückt war. Und so ging er mit. Gemeinsam wickelten sie Petja in feuchte Tücher. Konrad saß am Bett des kranken Kindes, während die Frau ein wenig ruhte. Als er endlich wieder in seine Stube zurückkehrte, war es weit nach Mitternacht. Müde und über alle Maßen enttäuscht legte sich Konrad schlafen. Der Tag war vorüber. Gott war nicht gekommen.

Plötzlich hörte er eine Stimme. Es war Gottes Stimme. »Danke«, sagte die Stimme, »danke, dass ich mich bei dir aufwärmen durfte - danke, dass du mir den Weg nach Hause zeigtest danke für deinen Trost und deine Hilfe ich danke dir, Konrad, dass ich heute dein Gast sein durfte.«

Maria Lorentz


Erster Advent ist heute. Heute beginnt die Zeit, in der auch wir warten, wie Schuster Konrad, dass Gott zu uns kommt und bei uns einzieht. Wir warten auf Weihnachten, wir warten auf Jesus, wir warten auf die liebevoll ausgesuchten Geschenke. Manche können das schon fast nicht mehr aushalten.

Schuster Konrad wurde von Gott besucht. Er hat es gar nicht gemerkt, dass Gott da war, in dem Postboten, der gefroren hatte, in dem Kind das sich verlaufen hatte und in der Frau, die die Sorge um ihr Kind nicht schlafen ließ.

Vielleicht müssen wir nur unsre Augen weiter aufmachen, damit auch wir sehen können, wenn uns Gott begegnet. Es wäre doch eine gute Idee, wenn wir in den nächsten drei Wochen ganz bewusst die Augen offen halten und nach Gott Ausschau halten. Manchmal begegnet er uns - ganz anders als wir uns das vorstellen. Vielleicht entdecken wir ihn, mitten in unserem Alltag. Nur ein kleiner Tip: Wenn uns Gott begegnet, wenn er in unsere Herzen einzieht, dann wird es da innen ganz hell.

Nach dem nächsten Lied werden wir unseren Adventskranz schmücken. Dieses Jahr mit vielen süßen Sachen. Natürlich fehlen auch die Kerzen nicht. Wir werden jeden Sonntag eine Kerze mehr anzünden. Und wenn dann alle vier Kerzen brennen, am 4. Advent, dann werden wir uns wieder hier treffen und schauen wo uns Gott in den drei Wochen begegnet ist. Ich werde wieder eine Geschichte mitbringen, und – wir werden die süßen Sachen wieder vom Adventskranz nehmen und an die Kinder, die an dann hier im Gottesdienst sind, verteilen. Ihr seid also herzlich eingeladen zum Familiengottesdienst am 4. Advent, das ist am Tag vor dem Heiligen Abend.

Die Ansprache wurde von mir im Familiengottesdienst am 1. Advent 2007 gehalten

27.11.2007

Die Schiedsrichter

Sportplatz. Tausende sitzen auf den Rängen und sehen zu. Elf Spieler kämpfen auf dem Spielfeld. Die auf dem Rängen sind alle Schiedsrichter, wissen genau was die da unten falsch machen. Wenn die Elf gewinnt, dann haben wir gewonnen, wenn sie verliert, dann jagt man den Trainer davon.
So geht es auch in unseren Gemeinden. Da sind Zuschauer, viele Zuschauer, aber kaum jemand spielt mit. Alle wissen wie es besser geht, was die Spieler falsch machen. Die Gemeinden brauchen Spieler, keine Zuschauer oder Schiedsrichter.


nach Peter Hahne, ZDF Moderator, bei einem Vortrag in Fürth St. Paul am 26.11.2007

22.11.2007

Straßenkinder in Deutschland

Es ist kalt geworden in Deutschland.

Der Schnee hat unsere Ortschaft mit einer dicken weißen Schicht zugedeckt.

Vor wenigen Stunden kamen meine Kinder mit roten Nasen, kalten Händen und strahlenden Augen vom Schneehaus bauen nach Hause. In Akkordzeit wurden alle nassen Schneesachen ausgezogen und in die Ecke geworfen. Und noch schneller standen meine kleinen Räuber in der Küche, wo der heiße Kinderpunsch schon bereit stand. Eine Hand voll Kekse und eine Tasse Kinderpunsch, dazu drei leuchtende Kinderaugenpaare.

Jetzt ist es nach 24 Uhr. Meine Kinder liegen im warmen Bett. Bis zur Nasenspitze zugedeckt und schöpfen Energie für den neuen Tag.

Meine Gedanken wandern weg von meinen eigenen Kindern. Sie wandern hin zu den Kindern und Jugendlichen, die jetzt irgendwo im Freien sitzen und frieren. Deren Magen knurrt. Die ihre Restenergie benötigen, um diese Nacht zu überstehen. Meine Gedanken gleiten zu den Straßenkindern dieser Welt.

Jeder weiß, dass es sie gibt. Die Weltgesundheitsorganisation redet von ca. 33 Millionen, andere Organisationen von bis zu 100 Millionen Straßenkindern weltweit. Erschreckende Zahl. Und doch soweit weg. Indonesien, Afrika, Russland, Asien... schlimm, was in anderen Ländern so geschieht. Ein Glück leben meine Kinder in Deutschland, möchte ich gerade fertig denken, als mein Gedanke in diesem Gedanken stecken bleibt.

Straßenkinder in Deutschland, direkt vor meiner Tür.

Keine fünfzig Kilometer von meiner Wohnungstür entfernt gibt es sie. An die 600 Jugendliche und junge Erwachsene leben in und um Stuttgart mehr auf der Straße als Zuhause. Manche von ihnen leben ganz auf der Straße oder in Abbruchhäusern. Etwa 20 von ihnen stehen momentan vor der absoluten Obdachlosigkeit. Wenn diese Zahlen nur Stuttgart betreffen, wie hoch sind wohl die Zahlen bundesweit?

Und auch wenn die Straßenkinder Deutschlands nicht mit den Kindern der Straße Afrikas zu vergleichen sind, leben sie dennoch aus derselben Gleichung:

Die erlebte Not, der Weg hin zur Straße.

Die Straße ihr Zuhause.

Die Freunde ihre Familie.

Ich halte meine heiße Tasse Tee in den Händen. Beobachte leise ein paar Kerzen bei ihrem Lichtertanz. Der Raum ist von einer wohligen Wärme durchtränkt. Die Kälte des Winters hat keine Chance, in mein Haus einzuziehen. Und doch begegnet mir die Wahrheit, dass es kalt geworden ist in Deutschland.

Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, wenn wir unsere Augen verschließen möchten. Wenn unsere Ohren sich davor schützen wollen. Es gibt Euch, Euch Kinder der Straße. Und Euch begegnet eine Kälte, die Ihr nicht verdient habt.


Was treibt sie auf die Straße?


Eure erlebte Not hat Euch auf die Straße getrieben und zieht jeden Tag neue Jugendliche dorthin. Ist es wichtig, in welche Notkategorie jeder Einzelne von Euch eingestuft wird?

Vielleicht gehörst Du zu der Personengruppe, die täglich soviel seelische und körperliche Gewalt erfährt, dass Dein Zuhause Dir keine Zuflucht, keine Sicherheit schenkt. Vielleicht hast Du Angst nach Hause zu gehen. Dorthin wo Schläge, Missbrauch, Qual und Leid auf Dich wartet.

Vielleicht gehörst Du zu denen, die dem Leistungsdruck der Eltern nicht standhalten. Du erlebst das Gefühl, gar nicht die Chance zu bekommen, Dein Leben leben zu können. Weil man Dich wie eine Marionette benutzt. Weil man ganz genau weiß, was scheinbar gut und richtig für Dich ist. Welche Ziele Du zu erreichen hast. Ohne gefragt zu werden, ob Du dieses Leben, diese Ziele möchtest. Ob es Deine Ziele, Deine Wünsche und Deine Sehnsüchte sind.

Vielleicht gehörst Du zu denen, die von Kinderarmut betroffen sind. Und Dein Gang zur Straße gleicht einer Flucht vor dieser Realität, die diese neue Armut in Deutschland mit sich bringt.

Vielleicht wurdest Du auch von Deinen Eltern vor die Tür gesetzt. Weil man Zuhause Platz benötigte. Platz für Deine Geschwister, den neuen Partner. Platz, den Du in Anspruch genommen hast.

Vielleicht hat man Dir auch zur Volljährigkeit die Wohnungstüre von Außen gezeigt. Weil Du anscheinend der Grund für die Not und die Zwietracht innerhalb der Familie warst. Weil Du Deiner Familie Probleme machst.

Vielleicht gehörst Du auch zu den Wohlstandsübersättigten. Wurdest gemästet mit käuflichen Dingen. An Äußerlichkeiten überfressen, dennoch innerlich verhungert. Weil kein Spielzeug der Welt den Hunger nach Liebe stillen kann. Und Deine Eltern, Dein Umfeld nicht verstanden haben, dass ein Gameboy nicht innerlich erwärmt, keine Geborgenheit schenkt.

Vielleicht gehörst Du zu denen, die immer Zuhause alles durften. Deren Eltern meinten, dass Liebe keine Grenzen aufzeigt. Und Dein Gang auf die Strasse gleicht einem Hilferuf an Deine Eltern, Dir endlich einmal Grenzen aufzuzeigen. Grenzen der Liebe, die Dir Halt schenken können.


Straßenkinder sind mutige Kinder


Vielleicht gehörst Du auch in keine der genannten Kategorien.

Doch im Grunde ist es auch unwichtig, ob Du in eine Sparte gepresst werden kannst oder nicht.

Eines wird mir bewusst. Jedes Straßenkind, jeder von Euch ist ein sehr mutiges Kind, ein mutiger Jugendlicher, junger Erwachsener. Ihr tut genau das, was die wenigsten von uns tun. Ihr wehrt Euch. Ihr schreit Euer NEIN in die Welt hinein.

Ein NEIN zu all dem Schmerz, der Euch zugefügt wird. Ein NEIN zu der Not die Euch täglich Zuhause begegnet.

Ihr kämpft mit Euren Mitteln. Weil Ihr niemanden um Euch habt, der für Euch streitet, der für Euch eintritt, der für Euch kämpft, kämpft Ihr für Euch selber.

Ihr seid das große, laute NEIN zu all den Missständen, Verletzungen, Leiden ... mit denen unsere ganzen Kinder konfrontiert werden. Und dieses NEIN wir nur zu gerne überhören möchten.

Aber Ihr seid sehr starke Persönlichkeiten. Jeder Einzelne von Euch ist ein Bündel voller Mut. Keiner von Euch hat es verdient, dass Andere auf Euch verachtend herabblicken. Niemand hat das Recht Euch Eure Würde abzusprechen.

Ja, manche von Euch nehmen Drogen. Manche von Euch tun Dinge, die vor dem Gesetz nicht in Ordnung sind. Manche von Euch verkaufen ihren Körper. Ja, auch das ist die Wahrheit.

Aber die grundlegende Wahrheit ist, dass dies alles und viel mehr nur die Folgen sind. Und nicht die Ursache. Die Folgen für unser Wegsehen. Für unser Schweigen. Die Folgen Eurer Not, die keiner von den großen, starken Menschen um Euch beachtet hat.

Ob wir kleinen Leute dieser Gesellschaft es schaffen können diese Ursachen zu beseitigen?

Ich weiß es nicht.


Ohnmacht und Wut


Die Ohnmacht meldet sich zu Wort und mit ihr die Wut. Weil der Staat wieder einmal wegsieht.

Weil Hilfeleistungen gekürzt werden. Was nicht sein darf, gibt es nicht. „In Deutschland gibt es keine Straßenkinder. Wir haben nicht solche Zustände wie Russland.“

So hört man es doch immer wieder.

Ja, vermutlich habt Ihr alle eine Anschrift. Die meisten Eurer Eltern haben einen Wohnsitz und dadurch auch Ihr. Es gibt zur Not ja Jugendheime, die Euch auffangen können, wenn das Zuhause kein Zuhause bietet.

Aber selbst wenn dies alles die Wahrheit ist. Bedeutet ein Schlafplatz, ein Dach über dem Kopf ein Zuhause? Kann ein Jugendheim eine gesunde Familie, eine Heimat ersetzen?

Ich weiß nicht, wie man diese Ursachen beseitigen kann. Aber ich weiss, dass wir es schaffen können, Euch in Eurem jetzigen Sein zu unterstützen.

Es liegt an jedem Einzelnen von uns, wie wir Euch begegnen. Ob wir auf die Folgen oder auf die Ursachen blicken möchten. Wir entscheiden darüber, ob wir hinsehen oder wegsehen möchten.

Ihr habt Nein gesagt zu Dingen, die Euch hindern, Eure Ziele zu verwirklichen. Ein anderes, besseres Leben. Ein Leben das den Namen desjenigen trägt, der es auslebt.

Ein lautes NEIN wegen des JA´s zum Leben.

Und wieder wandert mein Blick hin zu den tanzenden Kerzenlichtern. Die Hilflosigkeit möchte in mir einziehen. Weil ich so gerne helfen möchte und nicht weiss wie. Ich fühle mich so klein gegenüber den Missständen unserer Welt. Und ich erlebe das Gefühl, wie die Kälte Deutschlands doch langsam in mein Sein wandert.

Aber halt, ihr düsteren Gedanken der Nacht! Nicht jeder überhört dieses NEIN. Und manche hören sogar dieses JA hinter dem NEIN. Dieses JA zum Leben. Auch wenn dieses JA fast in der Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit versunken ist.


Wer hilft?


In den meisten Großstädten gibt es Organisationen, die sich für die Kinder der Straße einsetzen. Da gibt es Menschen die hinsehen. Die ihre Hände austrecken und ganz praktisch helfen möchten und tun. Diese Menschen wissen, ein Frühstück am Morgen, die Möglichkeit zu duschen, ein Notschlafplatz... verändert nicht Euer jetziges Leben. Aber ein warmes Essen macht satt. Eine Anlaufstelle ersetzt kein Zuhause, aber sie verschafft die Möglichkeit der Begegnung, des Austausches, der Hilfe. Nicht immer alles alleine durchstehen müssen, da es dort eine Hand voll Menschen gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Euch ein Stück zu begleiten. Die Euch dabei unterstützen möchten, dass aus Euren fast verschwundenen Träumen wieder Ziele werden. Eure Träume, nicht die Träume, die ein anderer für Euch sich erträumt. In diesen Anlaufstellen geht es um Euch. Endlich einmal nur um Euch.

Und so denke ich an die Anlaufstelle "Schlupfwinkel", die in Stuttgart ansässig ist. Ein Schlupfwinkel der wirklich Unterschlupf bietet. Der genau diese Dinge tut, die jemand tun muss und die keiner von uns so richtig tun will. Weil sich niemand von uns dafür verantwortlich fühlt.

Drei hauptamtliche und mehrere ehrenamtliche Mitarbeiter tun dort das, worüber wir reden. Wozu wir verpflichtet wären, weil es um unsere Kinder geht.

Im Schlupfwinkel gibt es Menschen, mit denen Ihr reden könnt. Die Euch helfen können. Die mit Euch gemeinsam den Weg gehen möchten, dass Euer lautes NEIN nicht umsonst war. Deren Ziel es nicht ist, Euch nur schnell weg von der Strasse zu holen, damit unsere Strassen wieder schöner werden. Sondern die mit Euch einen Weg weg von der Strasse finden möchten, damit Ihr nicht nur überlebt sondern lebt.

Auch wenn Schlupfwinkel kein Zuhause ersetzen kann. So bedeutet doch der Schlupfwinkel eine Oase der Heimat. Ein Ort der Zuflucht. Der aktiven, guten Hilfe.

Wir kleinen Menschen dieser Gesellschaft, wir können vermutlich wirklich die große weite Welt nicht verändern.

Aber wir können die Welt vor und hinter unserer Türe verändern. Wir können hinsehen, wo andere wegsehen. Wir können unsere Türen öffnen, für Menschen, die sonst nur vor verschlossene Türen stehen. Wir können finanziell die Anlaufstellen unterstützen, damit sie weiter ihren Dienst für die Kinder unserer Strasse tun können. Wir können so viel tun. Die große, weite Welt beginnt genau da, wo wir stehen und leben.

Ja, es ist kalt geworden in Deutschland. Doch wir können dazu beitragen, dass sich Deutschland wieder erwärmt

Michaela Ender

20.11.2007

Monat der Tränen


Es ist wieder November geworden. Draußen ist es trist, kalt, nebelig, unwirtlich. Die Nächte werden länger, die Tage kürzer. Es schlägt uns aufs Gemüt. Der November ist die Zeit, in der die Natur stirbt und unsere Gedanken auf unser eigenes Sterben hingelenkt werden. Wir gedenken in diesem Monat unserer Lieben, die uns bereits diesen Weg vorausgegangen sind und wir fühlen den Schmerz des Vermissens.

In einem Gesprächskreis haben wir über unsere Tränen gesprochen. Wir haben davon erzählt, wie wir uns in den Schlaf geweint haben, weil uns der Schmerz nicht mehr losgelassen hat. Der Schmerz der Trauer, der Schmerz über das eigene Versagen und unserer Schuld. Es wurde auch erzählt, von den Tränen verlassener Menschen, die ein Kind hergeben mussten, die ihre Eltern verloren haben oder den Ehepartner. Menschen, die vor Einsamkeit weinen.

Es ist mir Trost, wenn ich bei Jesaja 25,8 lese: Gott der Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen. Da ist einer, der meine Tränen sieht. Der sich mir zuwendet und meine Tränen trocknet. Ein gutes Bild, das mich an eine liebevolle Mutter, oder einen fürsorglichen Vater erinnert. Gott kümmert sich um meine Tränen, mit denen ich mich verletzt, verlassen, gedemütigt in den Schlaf geweint habe. Ihn rühren die Tränen, die ich aus Verzweiflung über meine Schuld und mein Unvermögen das Richtige zu tun, weine.

Gott ist in unseren Tränen. Und ich bin sicher, dass Gott manchmal mit uns weint. Er kennt unsere Sorgen und unser Leid.

17.11.2007

Reisende soll man nicht aufhalten

Ende November verlässt uns unser Kollege, der erst seit 2 1/2 Jahre in unserer Gemeinde Pfarrer ist. Grund: Seine zweite Frau, die er vor 2 Jahren geheiratet hat und ebenfalls Pfarrerin ist, will aus dem Schuldienst zurück in den Gemeindedienst. (Warum das jetzt sein muss, bleibt wohl ihr Geheimnis.) Nachdem die Bemühungen erfolglos waren, in der Nähe eine Pfarrstelle zu finden, machten sich beide auf die Suche nach geeigneten Pfarreien und wurden im DB Gräfenberg fündig. Folge für uns: Nach so kurzer Zeit wieder einen Wechsel in der Gemeindeleitung und eine 1-jährige Vakanz, nach der die Stelle dann wieder besetzt werden kann. Das wird dann im Dezember 2008 sein. Für unsere fast 7.000 Gemeindeglieder sind in dieser Zeit eine Pfarrerin und ich (Diakon) zuständig. Unsere Kollegen in den Nachbargemeinde haben uns bereits ihre Hilfe zugesagt.

Ich denke, dass Gott weiß warum das jetzt so sein muss. Es ist seine Gemeinde für die viel gebetet wird und er ist der, der die Menschen in diese Gemeinde zur Mitarbeit ruft. Gott kennt unseren neuen Kollegen bereits!

18.10.2007

Unser Sonntag - ein Geschenk?

Meine Predigt für den kommenden Sonntag Markus 2, 23-28


Rabbi Ovadia Josef, der geistige Mentor der einflussreichen Schas-Partei in Israel, hat in einem neuen Erlass das Nasebohren am heiligen jüdischen Sabbat verboten. Josefs Entscheid war in einer Predigt von ihm enthalten, die Samstagabend in Israel und der jüdischen Welt über Satellit verbreitet wurde, berichtete am Sonntag die Zeitung Yediot Aharonot. Laut Josef verletzt das Nasebohren strenge Sabbat-Gesetze, weil dabei versehentlich dünne Haare aus den Nasenlöchern herausgerissen werden könnten. Dadurch würde gegen das Sabbat-Verbot verstoßen, sich in irgendeiner Weise die Haare zu schneiden. Die religiöse Schas-Partei hält im israelischen Parlament zehn Sitze.[1]


Deutsche Tugenden

Fast sind wir gewillt, uns über den Nasebohren-Erlass des Rabbi Ovadia Josef lustig zu machen und ihn mit einer abwertenden Bemerkung abzutun. Aber sind wir denn viel besser mit unseren Gesetzlichkeiten, die es überall unter uns gibt? Ich denke da zum Beispiel an die Deutschen Tugenden: Ordnungssinn, Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein, Treue, Redlichkeit, Bescheidenheit, Gottesfurcht. Wir sehen solche Tugenden, oder sollte ich sagen, solche deutsche Gesetzlichkeiten als Garant unseres Erfolgs an: Disziplin, Gehorsam, Pflichterfüllung. Das geht weit in die Vorstandsetagen unserer großen Unternehmen hinein. So fordert der Vorstandschef der Deutschen Telekom Kai-Uwe Ricke mit klaren und deutlichen Worten, sich auf die deutschen Werte zu besinnen: Mut, Entschlossenheit, Wahrheit, harte Arbeit. Deutsche Tugenden, deutsche Werte, deutsche Erfolgsgesetze in Variationen.


Das tut man nicht

Dabei habe ich noch gar nicht über die „Gesetze“ gesprochen, die wir uns in unseren Familien, in unseren christlichen Gemeinden und im Zusammenleben gegeben haben. „Das tut man nicht“, wer kennt nicht diesen Ausspruch? Ein paar dieser „das tut man nicht“-Gesetze fallen mir auf Anhieb ein: Wer Christ sein will, der geht Sonntag zum Gottesdienst – Ein Christ lässt sich nicht scheiden – Ein Christ hat vor der Ehe keinen Sex und meidet die Selbstbefriedigung – Ein Christ hat keinen Streit und sagt immer die Wahrheit – Ein Christ ist zuverlässig und pünktlich, er ist immer sanft und liebevoll. Vielleicht würden wir gerne auch festlegen, welche Gedanken am besten nicht gedacht werden.


Im Erfinden von gesetzlichen Bestimmungen und Forderungen sind wir Menschen wirklich gut. Warum tun wir das? Warum versuchen wir den anderen und oft genug auch uns einzuschränken, auf „Linie“ zu bringen? Ich stelle die Behauptung auf: Je autoritärer und menschenverachtender ein System ist, je mehr es von Angst und überbeschützender Sorge bestimmt ist, um so mehr greift es in die Freiheit der Menschen ein. Dabei kann es sehr kleinlich zugehen. Das können wir erleben, wenn eine christliche Gemeinde bestimmte Fragestellungen nicht mehr zulassen will, wenn in Familien bestimmte Themen tabu sind und über sie nicht gesprochen werden darf. Wir können das sehen, wenn vor lauter „Fürsorge“ ein ganz enger Rahmen festlegt wird, in dem Glaube gelebt werden darf. Was darüber hinausgeht, wird mit dem Urteil abgetan: „Ein Christ kann so etwas nicht glauben!“ Und so hört dann ein Christ bestimmte Musik nicht, Zigaretten und Alkohol sind verboten nach dem Motto: „Ein Christ raucht und trinkt nicht“. Am Ende wird bestimmt welche Theologie die Richtige ist, es wird darauf geachtet, ob der Pfarrer „gläubig“ ist und man beginnt jeden Menschen unter dem Gesichtspunkt anzusehen, ob er wohl ein „gläubiger Christ“ ist. Sich gegenseitig den christlichen Glauben abzusprechen, ist dann der Höhepunkt solcher gegenseitiger Verurteilungen.


Skandal mit den Jüngern

Jesus war mit seinen Jüngern am Sabbat unterwegs. Dabei kam es zum Skandal. Aber hören wir selbst, was vorgefallen war. Der Predigttext steht bei Markus im 2. Kapitel:

Es begab sich, daß Jesus am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.[2]

Die Jünger gehen durch das Feld und streifen beim Hindurchgehen die Körner ab, zerreiben sie und essen sie. Sie waren hungrig. Es war nicht die Lust am mutwilligen Übertreten einer unnötigen Regel. Nach dem Alten Testament muss die Ernte am Sabbat ruhen. Natürlich müssen Gottes Gebote gehalten werden. Aber sie brechen das Gesetz, weil ihnen der Magen knurrt. Sie wissen, dass sie ein wichtiges Gebot übertreten. Nur im Notfall darf ein Gesetz übertreten werden.

Kleinkariert, denke ich. Kleinkariert, diese Pharisäer. So ein Aufstand wegen ein paar ausgeraufter Ähren. Das ist doch nicht der Rede wert. Gesetzlichkeit hat immer das Gewand des kleinkarierten an.


Das muss jeder doch selbst wissen ...

Wir haben da in unserer säkularisierten Welt schon ganz andere Probleme. Bei uns steht immer öfter und immer massiver der Sonntag als Ruhetag für alle zur Disposition. Firmen möchten den Sonntag als Ruhetag abschaffen, weil die teuren Maschinen auch am Sonntag laufen sollen, und damit besser ausgelastet werden können. Kaufhäuser wollen ihre Türen auch am Sonntag offen halten, weil dann an sieben Tagen in der Woche die Kassen klingeln und nicht nur an sechs Tagen. Es wird einfach nicht mehr die Notwendigkeit eingesehen, dass es einen allgemeinen Ruhetag in unserer Gesellschaft geben soll. Das muss doch jeder selbst wissen, ob er Ruhe braucht und jede Woche einen Ruhetag will, oder ob er einmal im Monat mit einem Kurzurlaub zurecht kommt: Vier Wochen Arbeiten, anschließend acht Tage frei. Das muss doch jeder selbst wissen, wie seine Bedürfnisse sind.


Jesus verteidigt seine Jünger gegen ein Gesetz, das nicht den Menschen im Mittelpunkt hat, sondern um des Gesetzes willen durchgesetzt werden soll. Ein Gesetz, das sehr den Anschein von Rechthaberei erfüllt. Wie ein guter Anwalt weist Jesus auf einen Präzedenzfall für das Jüngerverhalten hin und wirft den Pharisäern Schriftunkenntnis und Schiftunverständnis vor. Sie lesen die Schrift so, als sei der Mensch für den Sabbat geschaffen. Aber es ist umgekehrt, der Sabbat ist für den Menschen geschaffen und hat somit nicht bestimmende, sondern dienende Funktion.


Der Sabbat dient dem Menschen, darum ist es nicht gleichgültig, wie der Mensch den Sabbat verbringt, was er an dem von Gott geschenkten freien Tag tut und lässt. Der Sabbat ist Gottes Geschenk an uns. Gott hat es so eingerichtet, dass nach Tagen der Arbeit Zeit der Ruhe ist. Der christliche Sonntag, der seinen Ursprung im jüdischen Sabbat hat, unterbricht die Kette der Schlussfolgerungen und Sachzwänge, die Fließbänder der Produktionsoptimierung und ermöglicht Nachdenken, Berichtigung und Neuanfang. Es ist Pause. Ich denke wir Menschen brauchen so eine gemeinsame Pause, ein gemeinsames Nachdenken, sich besinnen auf das, was in unserem Leben trägt. Wir brauchen es, dass wir Zeit füreinander haben, Gemeinschaft leben können. An diesem Tag der Pause brauchen wir nicht die Ablenkung durch den Konsum und die Betriebsamkeit, der wir die ganze Woche und alle anderen Tage unseres Lebens ausgesetzt sind. Einen Tag in der Woche, der Ruhe signalisiert, der nicht wie alle Tage ist. Einen Tag in der Woche, wo das Leben den Atem anhält, zur Besinnung kommt, abschließt was gewesen ist und erst am nächsten Tag neu beginnt – eine neue Woche, neue Herausforderungen, neue Aufgaben.


Gottes Geschenk

Gott hat das Geschenk seines Ruhetages nicht in das Belieben der Menschen gestellt. Er weiß, dass der Mensch nach sechs Tagen diesen Ruhetag braucht. Er hat es so eingerichtet, dass der Mensch um psychisch und physisch gesund zu bleiben diesen Rhythmus von Arbeit und Ruhe braucht. Gott hat den Menschen so geschaffen, dass er die menschliche Gemeinschaft braucht um stabil und tragfähig zu bleiben, Tage gemeinsamer Feier und Freizeit, Menschen, um menschlich zu bleiben. Den Sonntag zu feiern ist Ausdruck der Freiheit des Menschen. Gott will nicht, dass wir Sklaven unserer Arbeit sind. Auch nicht die Sklaven der Wirtschaft und des wirtschaftlichen Erfolges, der Maschinenlaufzeiten und der klingenden Kaufhaufkassen.


Der Sabbat ist aus der Verfügbarkeit des Menschen herausgenommen, weil er von Gott geschaffen und geschenkt ist. Gott hat es nicht so eingerichtet, dass jeder Mensch seinen Ruhetag nimmt, wie er es möchte. „Sechs Tage sollst du arbeiten; am siebenten Tage sollst du ruhen, auch in der Zeit des Pflügens und des Erntens.“[3] Gott will, dass wir alle eine gemeinsame Zeit der Ruhe einhalten, damit es wirklich ein Ruhetag wird, der sich aus dem Getriebe der Woche heraushebt und einen ganz anderen Schwerpunkt hat.


Heute erstickt der Sabbat, bzw. der Sonntag nicht an festgelegten Verhaltensregeln, sondern er verliert seine Konturen, weil solche Regeln nicht mehr für nötig erachtet werden. Es geht nicht darum ein neues Regelkorsett für den Sonntag zu erschaffen. Das kann angesichts der religiösen Vielfalt unserer Gesellschaft gar nicht gelingen und muss auch nicht versucht werden. Solche Regeln vermögen den Sonntag nicht zu schützen. Jeder muss selbst wissen, wie seine persönliche Verbindlichkeit aussieht.


Wenn Christen den Sonntag so feiern, wie ihn Gott den Menschen geschenkt hat, provozieren sie heutige Zeitgenossen. Eine Sonntagspraxis, die auf persönlicher Verbindlichkeit beruht, strahlt aus und wirkt auf die Umwelt. Wer auf die Freiheit verzichtet am Sonntag zu arbeiten und einzukaufen, erlebt die Freiheit auszusteigen aus der Gleichförmigkeit der Tage und er kann neue Anfänge setzen. Wer hingegen jeden Sonntag durcharbeitet, wer den Sonntag zu einem normalen Handelstag machen möchte, zerstört diese Erlebnismöglichkeiten.


Leben, einfach nur leben

Der 1980 verstorbene jüdische Psychologe und Professor für Psychoanalyse Erich Fromm schreibt: „Am Sabbat lebt der Mensch, als hätte er nichts, als verfolgte er kein Ziel außer zu sein, das heißt seine wesentlichen Kräfte auszuüben - beten, studieren, essen, trinken, singen, lieben. Der Sabbat ist ein Tag der Freude, weil der Mensch an diesem Tag ganz er selbst ist. Das ist der Grund, warum der Talmud den Sabbat die Vorwegnahme der Messianischen Zeit nennt und die Messianische Zeit den nie endenden Sabbat; der Tag, an dem Besitz und Geld ebenso tabu sind wie Kummer und Traurigkeit, ein Tag, an dem die Zeit besiegt ist und ausschließlich das Sein herrscht."

Der Sabbat soll uns zeigen was Leben ist. Was brauchen wir? Die Ähren und das Brot - und die Freiheit und die Hoffnung. Amen.



[1] Quelle unbekannt

[2] Markus 2, 23-28

[3] 2.Mose 34,21

14.10.2007

Hausbesuch: Notfallseelsorge

Mit TimeSystem und Computer
Andreas Stahl sorgt für die Erreichbarkeit kirchlicher Seelsorge

Inzwischen kann man in der Presse in den Polizeiberichten immer wieder lesen, dass nach einem Unfall, Brand oder anderen Unglücksfällen, Notfallseelsorger vor Ort waren, die sich um Angehörige oder Betroffene gekümmert haben. Notfallseelsorge wird zum Begriff, sie etabliert sich immer mehr im Angebot der Hilfsdienste.

Als ich die zwei Stockwerke zur Wohnung von Bruder Andreas Stahl, in der Pirckheimer Straße in Nürnberg, hinaufstieg, erwartete ich einen mit allen Wassern gewaschenen Seelsorger, der mit plötzlichem Leid und Tod umgehen kann. Meine Vorstellungen orientierten sich an der eigenen Notfallseelsorgepraxis: Nachts unterwegs sein, Straßen und Hausnummern suchen, mit geschockten Menschen sprechen, einfach da sein. Zu Unfällen gerufen werden, wo einen das Grauen zu packen beginnt und die eigene Hilflosigkeit zu übermannen droht. Bei Eltern ausharren, deren toter Säugling auf dem Tisch liegt. Die vielen ausgesprochenen und unausgesprochenen Fragen aushalten, die Fragen nach dem Warum und Wozu. Die eigene Wut darüber, warum Gott so etwas zulässt. - Mit diesen Gedanken stieg ich die Treppen hinauf und war irgendwie erstaunt, als mich oben ein freundlich-fröhlicher junger Mann begrüßte, dem der tägliche Umgang mit schwersten Leid nicht auf dem ersten Blick abzuspüren ist.

Er führte mich in sein Büro, das in seiner Wohnung untergebracht ist. Schreibtisch, Bücherregal, Telefon, PC, Drucker und TimeSystem waren als Arbeitsmittel vorhanden. Am meisten verwunderte mich das TimeSystem, das ja eher als ein Hilfsmittel für Manager Verwendung findet. Aber das beantwortete sich später von selbst.

Erfahrungen als Rettungssanitäter

Seit Juni diesen Jahres hat Bruder Stahl eine landeskirchliche Projektstelle für Notfallseelsorge inne. Inhaltlich geht es darum, Fortbildung für Notfallseelsorger im Kirchenkreis Nürnberg zu organisieren und die Möglichkeiten zu klären, für Seelsorge am Nürnberger Flughafen. Diese Stelle war als Pfarrstelle gedacht, aber sie ging an Andreas Stahl. Und das kam nicht von ungefähr, denn er ist in der Notfallseelsorge im Nürnberger Raum seit Jahren kein unbeschriebenes Blatt mehr. Neben der 0,5 Stelle Jugendarbeit im Maxfeld, war er seit 2002 bereits mit einer halben Stelle im Evang.-Luth. Dekanatsbezirk Nürnberg als Beauftragter für Notfallseelsorge angestellt. „Mir kam dabei sehr meine Erfahrung als Rettungssanitäter zugute“, meinte Andreas Stahl, „denn ich lernte dort professionell mit schwersten Krisensituationen umzugehen.“ Schon vor seiner Rummelsberger Zeit, als er noch bei der Bundesbahn als Elektriker arbeitete und nebenbei Jugendarbeit in Weiden machte, fuhr er als Rettungssanitäter in seiner Heimatstadt. „Seit 1991 fahre ich immer noch einmal im Monat am Freitag in Weiden Nachtschicht als Rettungssanitäter. Das hilft mir fit zu bleiben und in meinem Hauptberuf eine andere Sicht der Dinge zu behalten“, lächelnd fügt er hinzu „und im Übrigen kann ich da auch gleich mein Patenkind besuchen.“

Als in Röthenbach/Pegnitz vom Roten Kreuz 1998 die Anfrage nach Notfallseelsorgern kam, war er bereit dort mitzumachen, allerdings nur unter der Bedingung, dass er die 5-tägige Weiterbildung machen dürfe. Er sieht für diese den ganzen Menschen fordernde Arbeit, solch eine Weiterbildung als unerlässliche Voraussetzung an. So kam er zur Notfallseelsorge.

Erreichbarkeit kirchlicher Seelsorge sicherstellen

In seinem jetzigen Dienstauftrag sieht sich Andreas Stahl in erster Linie nicht als der Notfallseelsorger, der von Unfallstelle zu Unfallstelle eilt oder zusammen mit der Polizei Todesnachrichten überbringt. Er sieht sich eher als Koordinator der ökumenischen Notfallseelsorge. „Notfallseelsorge ist Erreichbarkeit kirchlicher Seelsorge“, so beschreibt er, wie sich ihm dieser wichtige kirchliche Dienst darstellt, „und ich sehe es als meine Aufgabe an, diese Erreichbarkeit sicherzustellen. Ich sehe mich mehr als Manager, weniger als Seelsorger.“ In jedem der fünf Nürnberger Prodekanate gibt es einen Seelsorger mit Handy, der für einen Einsatz erreichbar ist. Zudem gibt es mehrere weitergebildete Notfallseelsorger (u. a. auch Diakone). Stahl: „Als Ziel der Notfallseelsorge sehe ich, den Gemeindepfarrer, der ja der Seelsorger der betroffenen Familie ist, zu verständigen – Kontakt herzustellen. Als unser Bruder Drews tödlich verunglückt ist, hab ich Kontakt mit der die Gemeindepfarrerin aufgenommen und bin nicht selbst gefahren. Die Gemeindepfarrerin ist die, die für die weitere Betreuung der Familie, bis hin zur Beerdigung, zuständig ist. Wie gesagt, Kontakte herzustellen, das sehe ich in erster Linie als die Aufgabe der Notfallseelsorge und damit auch als meine Aufgabe. Natürlich bin ich im Hintergrund immer erreichbar, wenn einmal alle Stricke reißen.“

Kontaktpflege und Vernetzung

Kontaktpflege sieht Bruder Stahl als eine seiner wichtigsten Aufgaben an. Kontakte zu Beratungsstellen, Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienste und sonstigen Hilfsorganisationen. So war er auch bei den Besprechungen zu den Veranstaltungen anlässlich der WM im letzten Jahr dabei. „Da wurden Einsatzpläne gemacht, wie mit einem ‚Großschadenereignis’ umgegangen werden soll. Da mussten Einsatzpläne auch für die Notfallseelsorge ausgearbeitet werden.“ Ich spüre, das Organisieren gefällt Andreas Stahl, hier liegt seine ganz besondere Begabung. Darum ist es für ihn keine Last, für entsprechende Vernetzungen mit Bahnhofsmission, Heilsarmee, Diakonie, Caritas und den anderen Hilfsdiensten zu sorgen. Er hat ein dickes Handbuch für die Notfallseelsorger vor Ort herausgegeben, das er immer wieder aktualisiert und auf dem Laufenden hält. „Mit diesem Handbuch könnte jemand, der in München ist, hier in Nürnberg Notfallseelsorge organisieren“, bemerkt er nicht ohne Stolz.

Fähigkeit Leid und Trauer auszuhalten

Bei aller Koordinations- und Organisationsarbeit bleibt er trotzdem in der seelsorgerlichen Praxis am Ball. Etwa 50 Einsätze fuhr er im letzten Jahr selbst. Da ist dann seine ganze Erfahrung gefragt, die er mit Menschen in Krisensituationen hat. Er weiß, dass er Zeit mitbringen und seine Bereitschaft zuzuhören vorhanden sein muss, auch die Fähigkeit Leid und Trauer auszuhalten. Ich frage ihn, ob er das dann mit nach Hause mitnimmt, was ihm bei einem Einsatz begegnet ist? „Nein, wenn der Einsatz abgeschlossen ist, ist das für mich abgeschlossen und ich vergesse, was ich gerade erlebt habe. Ich habe mir das in den vielen Jahren im Rettungsdienst antrainiert.“

Inzwischen ist auch Marion, seine Frau, nach Hause gekommen, die als Jugenddiakonin in Schniegling arbeitet. Sie bestätigt das: „Andreas hat das abgeschlossen, wenn er nach Hause kommt, er ist nicht aufgewühlt oder hängt schweigend rum.“ Dabei kann er u. U. auch sehr delikate Aufträge zu erledigen haben, die viel Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen erfordern. Er erinnert sich an die Überbringung einer Todesnachricht, die er der Ehefrau eines Mannes überbringen musste, der bei einer Prostituierten verstorben war. „Die Polizisten wollten da drum herum reden. Ich aber sagte der Frau in aller Offenheit, was vorgefallen war. Sie wollte alle Einzelheiten wissen. Darauf brach die Frau in helle Tränen aus. Durch die klaren Informationen fühlte sie sich ernst genommen und war so nach einer kurzen Schockphase wieder halbwegs handlungsfähig.“

Keinen Schaden erleiden

Bruder Stahl legt größten Wert darauf, dass Seelsorger mit Krisensituation professionell umgehen, damit auch sie keinen Schaden erleiden. Darum nehmen Schulungen einen Großteil seiner Zeit ein. „Seelsorger müssen wissen, wie sie sich in ungewöhnlichen Situationen verhalten und selbst damit umgehen können.“ Weiter meint Bruder Stahl: „Notfallseelsorge ist eigentlich nichts anderes als das, was Pfarrern und Gemeindediakonen in den Gemeinden begegnet.“ Im Aufgabenbereich von Andreas Stahl wird aber deutlich, wie wichtig Vernetzung und Koordination professioneller Hilfe in den Krisensituationen des Lebens sein kann und darin sieht er seine eigentliche Aufgabe.

13.10.2007

Radioandacht: Cristin

Cristin kam nach ihrer Geburt ins Säuglingsheim. Mit drei Jahren wurde sie adoptiert. Endlich hatte sie ein Zuhause. Als sie 12 war starb die Adoptiv-Mutter an einer schweren Krankheit. Für Cristin brach die Welt zusammen. Sie bat ihren Vater, in dieser schweren Nacht bei ihr zu bleiben und sie nicht allein zu lassen. Er ging weg. Auch Cristin verließ das Haus. Sie ging und betrank sich. Und weil das nicht gegen den Schmerz in ihrem Herzen half, nahm sie Drogen. Sie fühlte sich elend, verlassen, zuerst gewollt und dann weggeworfen. Zehn Jahre brachte sie mit Zigaretten, Alkohol und Drogen zu. Und weil Drogen Geld kosten, ging sie Anschaffen. Sie ertrug ihre geilen Freier ebenso, wie ihre brutalen Zuhälter. Der Ekel über ihr Leben ließ ihr nur noch die Wahl zwischen dem „Goldenen Schuss“ und einer Therapie.

In der Therapie lernte sie den kennen, der nicht wegwirft. Der auch dort ist, wo Elend und Versagen ist. Den, der Neues schaffen kann. Sie fand bei ihm Hilfe, wenn das Verlangen nach Alkohol und Drogen in ihr mächtig wurde und sie sich nach ihr ihrer Vergangenheit sehnte, wo scheinbar alles so cool und leicht war, weil ihr die Drogen den Verstand vernebelten.

Cristin ist seit Jahren ohne Zigaretten, Alkohol, Drogen und Sex. Sie hat Halt in Jesus. Gottes Wort hat in ihrem Herzen eine offene Tür gefunden. Staunend erlebt sie, wie ihr altes Leben Stück für Stück stirbt. Ihre Gewaltausbrüche und die Wut auf sich selbst, machen zunehmend der Liebe, die von Gott kommt, Platz. Gottes liebevolle Barmherzigkeit hat ihr ein neues, von Gott gesegnetes Leben geschenkt.

Radioandacht: Im Wartezimmer beim Zahnarzt

Ich sitze im Wartezimmer bei meinem Zahnarzt. Ohne Zweifel, es gibt Orte, an denen ich lieber bin. Ich möchte gerne ausweichen, mich verdrücken. Aber ich habe keine Möglichkeit, keine Wahl, denn die Zahnschmerzen sind unangenehm und belasten mich. Mit grummeln im Bauch und einem unangenehmen Gefühl der Spannung warte ich auf das, was auf mich zukommt.

Wir kennen das alle, unabänderliche Dinge, die unangenehm sind, die uns Angst machen und durchgestanden werden müssen.

Ich denke da jetzt nicht an einen Arzt- oder Zahnarztbesuch – oder an eine unangenehme Untersuchung oder Behandlung. Meine Gedanken sind bei einem unangenehmen Gespräch, bei einer schlechten Nachricht. Wenn wir oder andere tief betroffen und getroffen sind. Wenn wir Dinge ansprechen müssen, die Widerstand auslösen oder den anderen ins Mark treffen. Ich möchte nicht kalt sein, ohne Interesse an meinem Gegenüber. Sondern ich versuche ihn sehen als einen Menschen, der verletzbar ist, voller Gefühle.

Viele Christen falten in solch einer Situation die Hände und bitten Gott, in ihrer Angst, in ihren Worten und in dem Unangenehmen zu sein. Andere versuchen Gottes Wort zu vertrauen: Ich bin bei dir, in allem was du tust.

Radioandacht: Seid stille

Am Giebel der alten Trauerhalle im Fürther Friedhof lesen wir den Spruch: „Seid stille, sie schlummern nur!“ Es ist ein friedliches, ein tröstliches Bild, das zu uns aus diesen Worten spricht: Stille sein - Innehalten in unserer Trauer und in unserem Schmerz. Es zeigt Hoffnung, dass unsere Toten nicht auf ewig tot sind. Sie schlummern, bis sie zu einem neuen Leben geweckt werden. Diese hoffnungsfrohen Bilder entstehen in mir, wenn ich über diesen Friedhof gehe und die Inschrift am Giebel lese. Hoffnung, wir Menschen brauchen das. Ohne Hoffnung wird unser Leben sinnlos, unerträglich. Ich kann die Einladung: „Seid stille“ annehmen. Ich kann in meiner Klage über den Verlust eines geliebten Menschen innehalten und durch die Hoffnung getröstet, darauf warten was kommen wird.

Der Tod eines Menschen verunsichert uns. Wir fühlen die Grenze unseres eigenen Lebens. Bedrängende Fragen suchen Antwort: Gibt es eine Auferstehung der Toten, wie wir das im christlichen Glaubensbekenntnis bekennen, oder ist mit dem Tod alles aus und vorbei?

Es gibt keine Beweise für das was nach unserem Tod sein wird. Aber es gibt Zeugnisse von Menschen, die im Glauben bekennen konnten: „Ich werde nicht sterben, sondern leben“. Und wir haben das Wort Jesu, der die Macht des Todes gebrochen hat: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

Radioandacht: Notaufnahme

Wie aus heiterem Himmel lande ich in der Notaufnahme des Klinikums. Mein Herz macht Probleme – es schlägt nicht mehr wie es soll. Die Ruhe und die Freundlichkeit des Klinikpersonals wirken wohltuend und beruhigend auf mich. Ich fühle mich sicher und geborgen. Nach der ersten Untersuchung durch den Arzt werde ich in den Überwachungsraum gebracht. Ich bin angehängt an Monitore und Kabel. Computer und elektrische Geräte überwachen meinen gesundheitlichen Zustand. Der Arzt kommt zu meinem Nachbarn und eröffnet ihm lautstark, dass er einen Herzinfarkt erlitten hat und nun auf die Intensivstation verlegt wird. Ich überlege, wie es ihm wohl mit dieser schlimmen Nachricht gehen mag.

Während ich auf das Ergebnis der Laboruntersuchung warte, habe ich Zeit und Ruhe meine Hände zu falten und mit Gott meine jetzige Situation zu besprechen. - Es ist Frieden in mir. Ich fühle, dass Gott da ist und mich in dieser Situation nicht allein lässt. Staunend denke ich an den 144. Psalm: „Herr was ist der Mensch, dass du dich seiner annimmst, und des Menschen Kind, dass du ihn so beachtest?“ Dank durchströmt mein Herz und die Gewissheit, dass Gott auch diese Situation im Griff hat.

Radioandacht: Mein Türkischer Bettnachbar

Mein türkischer Bettnachbar, mit dem ich im Krankenhaus ein Zimmer teilte, kam nach dem gemeinsamen Frühstück auf seinen Glauben zu sprechen. Er erzählte, dass er an Gott glaubt und seinen Propheten Mohamed. Er war zusammen mit seiner Frau auf Pilgerfahrt in Mekka. Zu Hause verrichtet er die täglichen fünf Gebete – genau so, wie das der Prophet vorgeschrieben hat. Bekümmert meinte er nach einer Pause, dass das Leben voller Probleme sei und es in Ordnung ist, wenn er eines Tages stirbt. Danach wird er begraben und es ist alles gut. Aber nun hat er ein Problem, meinte er: Er wird er vor Gott stehen, der mit seinem Leben abrechnen wird - und das macht ihm Angst.

Ich hörte aufmerksam und schweigend zu.

Am nächsten Morgen erzählte ich ihm, dass ich Christ bin und an Jesus, den Gottessohn, glaube. Jesus möchte zwei Dinge von uns: „Du sollst Gott, deinen Herrn lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Eines Tages werde auch ich sterben, begraben werden und vor Gott stehen. Dann wird Gott mein Leben anschauen und ich werde bekennen müssen, dass ich es nicht geschafft habe so zu leben: Gott und meinen Nächsten in allen Dingen zu lieben. Deshalb bin ich schuldig geworden. Aber Jesus wird bei mir sein und mir wird meine Schuld vergeben, denn er hat sie auf sich genommen und die Strafe durch seinen Tod am Kreuz für mich bezahlt.

Mein Bettnachbar hörte aufmerksam und schweigend zu – es war Friede unter uns!

Radioandacht: Angst

Würden sie mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug springen? Ich ganz bestimmt nicht. Dazu hätte ich viel zu viel Angst. Der junge Student ist aus dem Flugzeug gesprungen – immer wieder. Es machte ihm Freude und er genoss es. Ganz schön mutig, denke ich.

Eines Tages fanden ihn seine Eltern, erhängt am Fensterkreuz. Ein Abschiedsbrief lag dabei. Er schrieb: „Verzeiht mir diesen Schritt aus dem Leben hinaus. Ich weiß, dass ich euch großen Schmerz zufüge. Aber ich habe solch große Angst, dass ich nicht mehr leben kann. Ich habe gebetet, bin in die Kirche gegangen, war beim Arzt – aber diese schreckliche Angst vor dem Leben ist mein Begleiter geblieben.“ So wie dem jungen Mann geht es vielen unter uns: Angst vor dem Leben. Sie leiden unter unserer schönen, aber oft auch Angst machenden Welt.

Angst – Jesus kennt das. Er weiß, dass uns diese Welt ängstigt. „In der Welt habt ihr Angst“, das sind seine Worte. Und er versucht uns zu trösten, bei uns zu sein, damit diese Angst nicht übermächtig und die alles bestimmende Kraft in unserem Leben wird. „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Es ist Hoffnung für uns, dass es einen Weg aus der Angst gibt. Jesus will uns ganz nahe sein, auch wenn uns die Angst überfällt und den Mut zum Leben raubt.

14.09.2007

Wer ist gerne Schwerhörig?


Wenn ich mit der U-Bahn fahre, kann ich oft sehr gut mithören, was sich mein Gegenüber gerade mit Hörstöpseln direkt in den Gehörgang bläst. Manchmal denke ich, dass das doch weh tun muss, so laut ist das.
Nebenstehende Tabelle zulässiger Schallbelastungen müsste uns eigentlich beim genaueren Ansehen himmelangst werden lassen. Zeigt sie doch die Folgen, wenn Menschen so rücksichtslos mit ihrer Hörfähigkeit umgehen. Können wir uns das als Volkswirtschaft leisten, dass man heute ab 40 Jahren schwerhörig ist?
Schwerhörigkeit ist schrecklich. Aber das erfährt erst der, bei dem das Gehör nicht mehr funktioniert oder der einen schwerhörigen Angehörigen hat. Da heißt es dann von vielem Abschied nehmen, was einem das Leben verschönt hat. Er wird sehr unter den eingeschränkten Möglichkeiten der Kommunikation leiden. Hörgeräte sind nur ein teurer Notbehelf.
Zur Zeit wird diskutiert, ob die Schallbelastung einer Disco gesetzlich auf 100 Dezibel begrenzt werden soll. Das ist dann aber immer noch so laut wie ein Presslufthammer. Wer sein Gehör liebt, geht nur mit Hörstöpsel in eine Disco! Wir sollten jedenfalls die Lautstärke der Musik begrenzen, vor allem auch das, was wir uns mit Kopfhörer direkt in den Gehörgang spielen. Stundenlange laute Musik ist Gesundheitschädigend.

13.09.2007

Deutschland - Rumänien 3:1

Ich schreibe das nicht, weil ich ein völlig durchgeknallter Fußballverrückter wäre, aber es fasziniert mich schon, welchen Einfluss Bundetrainer Joachim Löw auf die jungen und älteren Spieler der deutschen Fußballnationalmannschaft hat.

Es ist beinahe beängstigend, wie Löw mit seiner Mannschaft von Sieg zu Sieg eilt, ob mit der A-Mannschaft oder einem zusammengewürfelten Haufen, wie gestern Abend. Und selbst mit solch einer Mannschaft ist es ihm möglich, die A-Mannschaft Rumäniens, die seit 14 Spielen ungeschlagen war, zu besiegen.

Das Geheimnis scheint in der Personalführung von Löws Trainerteam zu liegen. Dieses Team versteht es, auch den Spielern Vertrauen in die eigenen Stärken zu vermitteln, bei denen es in ihrem Club augenblicklich gerade nicht so toll läuft, die mehr die Ersatzbank drücken, als dass sie spielen. Sie dürfen Fehler machen, unsere Spieler, aber sie halten sich an die Vorgaben des Trainers. Sie saugen ein, nehmen mit was sie lernen können, versuchen sich zu verbessern wo es geht, sind bereit an ihre Grenzen zu gehen.

In der Nationalmannschaft zu spielen scheint sich für alle zu lohnen, auch für die Arbeitgeber unserer Nationalkicker, denn sie kommen mit viel selbstvertrauen und oft von ihrer Erfolglosigkeit gesundet zu ihrer Mannschaft zurück.

Ich würde mir wünschen, dass wir es lernen, so mit unseren Mitarbeitern und den uns anvertrauten Menschen umzugehen, dass sie ihren Stärken vertrauen und Freude daran bekommen in einer Gemeinde, in einem bestimmten Projekt mitzuarbeiten. Wenn sie derart gestärkt aus solcher einer Mitarbeit hervorgehen, dann hat sich bestimmt aller Einsatz gelohnt.

Fehlerkultur in Deutschland

Zur Fehlerkultur in Deutschland äußerte sich der Rektor der Rummelsberger Brüderschaft Karl Heinz Bierlein

Wer erinnert sich nicht an die roten Striche, Auslassungszeichen und Wellenlinien auf schulischen Probeblättern und Schulaufgabenbögen? Wer nur einen Fehler hat, bekommt die Eins, wer 15 Fehler hat, die Sechs. Das hat unser Leben nicht unwesentlich geprägt. Wir kennen nicht nur Rechen- oder Rechtschreibfehler. Das praktische Leben ist durchzogen von Fahrfehlern, Fehlfarben, Fehlschüssen, Fehlkonstruktionen und auch moralischen Fehltritten.

Der Halbleiterhersteller Motorola hat Methoden zur Fehlervermeidung entwickelt. Es sollen Produkte entstehen, die eine Fehlerfreiheit von 99,99966 Prozent garantieren. Bei Chips und Prozessoren sind selbst kleinste Fehler problematisch. Deshalb wird immer mehr Perfektion angestrebt. Gehen wir so auf ein fehlerfreies Zeitalter zu?

Wie gehen wir mit Fehlern in unserer Gesellschaft um? Im Gegensatz zu einem Perfektionswahn fordern andere den Aufbau einer Fehlerkultur. Was ist damit gemeint? Forscher haben 61 Nationen untersucht, wie sie in ihrem Kulturkreis mit Fehlern umgehen. Die Deutschen landeten auf dem vorletzten Platz. Fehler sind das letzte, womit man sich hier zu Lande beschäftigen will. Die Angst vor Fehlern, vorm Versagen und Scheitern ist groß: Deshalb wird vertuscht und geschwiegen. Aber wir verlieren enorme Chancen dadurch", so der Fehlerforscher Professor Frese.

Dabei wissen wir: Niemand macht einen Fehler absichtlich. Aber wenn er unter den Teppich gekehrt wird, dann wächst das Ding und verbreitet sich wie ein Virus. Die Worte einer Lehrerin klingen mir noch im Ohr: "Du darfst jeden Tag einen neuen Fehler machen, aber bitte nicht immer wieder den gleichen."

Wer für Fehlerfreundlichkeit und Fehlerkultur eintritt, redet dabei nicht der Schlamperei das Wort. Es bedeutet vielmehr: Wir zeigen Interesse an einer Lösung. Wer Fehler erkennt und benennt, verhindert weitere. Die Voraussetzung für eine Fehlerkultur ist gegenseitiges Vertrauen und der Wille gemeinsam weiter zu kommen. Meistens in kleinen Schritten.

In Psalm 32 heißt es: "Denn als ich meine Sünde wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine .... Darum sprach ich: Ich will dem Herrn meine Übertretungen bekennen. Da vergabst du mir die Schuld meiner Sünde."
Welch ein befreiendes Wort! So entsteht neues Vertrauen und neuer Mut zum Handeln. Dann können wir auch getrost mit Fehlern umgehen.

12.09.2007

Glaube wie ein Senfkorn

Heute bin ich mit der Predigt für den kommenden Sonntag 16.9. fertig geworden. Ich stelle sie hier hinein zum nachlesen.

Predigt Lukas 17, 5-6

Die Apostel sprachen zu dem Herrn: Stärke uns den Glauben! Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn, dann könntet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und versetze dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.

Liebe Gemeindeglieder,
liebe Schwestern und Brüder in Christus,

„Ach wenn ich doch nur glauben könnte!“ Diesen Stoßseufzer hören wir immer wieder von Menschen, mit denen wir in Kontakt kommen. „Ach wenn ich doch nur glauben könnte!“ Viel anders klingt der Wunsch der Jünger an Jesus auch nicht: „Stärke in uns den Glauben!“ Wir, die wir versuchen aus dem Glauben heraus zu leben, wünschen uns oft nichts anderes sehnlicher als einen „starken“ Glauben zu haben. Einen Glauben, der uns in den Krisen des Lebens hindurchträgt. Einen Glauben, der nicht gleich beim ersten Luftzug ins Zweifeln gerät und in Gefahr kommt, wie ein kleines Pflänzchen, das gerade eben aus der Erde hervorspitzelt, ausgerissen zu werden. Wir wünschen uns einen Glauben, der in uns fest verankert und verwurzelt ist, aus dem uns Durchhaltevermögen, Kraft und Hilfe zuströmt, wenn alles mögliche an uns zerrt.

Glaube Hilfe zum Leben
„Ach wenn ich doch nur glauben könnte!“ Dieser Stoßseufzer wird nur von Menschen gesprochen, da bin ich mir sicher, in denen die Einsicht gereift ist, dass der Glaube eine Hilfe zum Leben ist, oder die Wehmut Raum greift über den Verlust ihres Glaubens. Nicht wenige wünschen sich auch mit diesem Stoßseufzer, dass Theologen die Bibel so auslegen möchten, damit auch sie das Gesagte glauben können.

Ja, es ist heute manchmal wirklich nicht leicht zu glauben. Gutgläubigkeit wird in unserer Gesellschaft in der Regel sofort und ohne Rücksicht bestraft. Ein gesundes Misstrauen kann da sehr hilfreich sein und vor Schaden bewahren.

Der christliche Glaube, wie groß oder klein er sein mag, sieht sich heutzutage immer wieder dem Spott von Nichtgläubigen ausgesetzt. Im östlichen Bereich Deutschlands hat sich bei den über 70 % Nichtchristen die Überzeugung festgesetzt: Glaube, Christentum, Kirche - das ist Voraufklärungszeit, ist dunkles Mittelalter, ist tendenziell Volksverdummung. Und so leben jene Nichtchristen und Atheisten in dem Bewusstsein, die Aufklärung zu repräsentieren. Sie sind gewiss, die Wissenschaft und damit die Zukunft auf ihrer Seite zu haben. Nicht ganz unähnlich denkt der eher sanft‑abschätzige Säkularismus im Westen Deutschlands. Militant abrechnende Zeitungsartikel wie der des Berliner Philosophen Herbert Schnädelbach „Der Fluch des Christentums“ (DIE ZEIT, Nr. 20, 2000) treffen allerdings im Westen wie im Osten eine verbreitete Stimmungslage. Wenn Schnädelbach von den sieben Geburtsfehlern des Christentums redet, greift er den christlichen Glauben in seinem innersten Zentrum an, z. B. die Lehre von der „menschenverachtenden“ Erbsünde oder den Glauben an „die Rechtfertigung als blutiger Rechtshandel“ oder den „Missionsbefehl“ als „Toleranzverbot“.

An was ich glaube
„Ach wenn ich doch nur glauben könnte!“ – Und dabei glauben wir doch unbesehen so viel. Wir halten Dinge für wahr, was wir gar nicht wissen. Das geht bei den Nachrichten im Rundfunk und Fernsehen los und endet bei den Zeitschriften und Zeitungen. Manchmal ahnen wir, dass wir nicht blind glauben sollen was da geschrieben wird. Aber Sie, liebe Gemeindeglieder, glauben doch auch, dass die Bank auf der sie jetzt hier im Gottesdienst sitzen nicht zusammenbrechen wird, oder heute Mittag der Stuhl, auf dem Sie sitzen werden, wenn sie ihr Mittagessen einnehmen. Mittagessen – gutes Stichwort – Sie glauben sicher, dass Sie kein Gammelfleisch gekauft haben, mit dem sie heute Mittag ein leckeres Mahl bereiten wollen. Und wenn sie in Ihr Auto einsteigen, dann glauben Sie, dass die Bremsen funktionieren, sonst würden Sie nicht losfahren. Unser Glaube ist viel mehr gefragt, als wir das oft annehmen. Carl Friedrich von Weizäcker schreibt zum Thema Glauben: „An etwas glauben, heißt, sich in jeder Lage so verhalten, wie man sich verhalten muss, wenn es das, woran man glaubt, wirklich gibt. ... Um es in einem Gleichnis auszudrücken: Der Fußballspieler muss den Ball ab- und zu einem andern Spieler seiner Mannschaft zuspielen. Das ist nur sinnvoll, wenn er damit rechnen kann, dass der Partner den Ball übernimmt und gegebenenfalls zurückspielt. Gewissheit hierfür gibt es nicht, denn der andere könnte durch den Gegner gehindert sein oder den Ball verfehlen. Trotzdem muss man ihm zuspielen. Dies mit dem Gegenüber trotz der Ungewissheit rechnende zuspielen und Zurückerwarten des Balls ist Glauben.“[1]

Glauben und Vertrauen
Glauben hat mit Vertrauen zu tun. Da ist so scheinbar viel Unbewiesenes, etwas das nicht mit Händen gegriffen und nicht gesehen werden kann, für das es vielleicht auch ganz andere Erklärungen geben könnte. Das Wort Zufall, könnte man vielleicht manchmal auch dafür einsetzen. Schon ein Säugling lernt das Vertrauen, das ihn im sogenannten Urvertrauen bestärkt. Ziel seines Vertrauens ist zunächst die meist Mutter, die ihn nicht verhungern lässt, die sich kümmert wenn es in der vollen Windel unangenehm wird oder wenn schmerzhaftes Bauchweh plagt. Der Säugling lernt, woran er dann später als Kind glauben wird: „Meine Eltern meinen es gut mit mir. – Bei meinen Eltern bin ich sicher und beschützt. – Meinen Eltern kann ich vertrauen.“ Als Erwachsener bleibt dann das Gottvertrauen: „Gott ist der, dem ich unbedingt vertrauen kann.“ Das wäre jenes unerschütterliche Glauben, das sich wie die Wurzeln eines starken Baumes an Gott eingekrallt hat: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“[2]

Der Glaube, der im Zweifel wohnt
Leider hat der Glaubende dieses Gottvertrauen nicht immer zur Verfügung. Dieses Glaubenkönnen, entgegen allem Anschein, fällt uns oft sehr schwer. Unsere Erfahrung sagt uns, dass das, was wir jetzt von Gott erwarten nicht sein kann, weil die Dinge des Lebens anders ablaufen und nicht so, wie wir das jetzt möchten und nötig hätten. Der Zweifel beginnt an uns zu nagen. Die Enttäuschung macht sich breit: „Ach wenn ich doch nur glauben könnte!“ Wir fühlen, dass wir bedürftig geworden sind, unser Glaube in der Krise ist. Unser Glaube, den wir als stark und fest eingeschätzt haben, wankt, braucht Hilfe. Und doch hilft mir der Zweifel, dass mein Glaube lebendig bleibt, weil er sich immer wieder mit dem auseinandersetzt, woran ich so gerne glauben möchte.

Glauben auf Vorrat geht nicht. Gerade im Zweifel muss er uns immer wieder neu zugesprochen werden, „Fürchte dich nicht, glaube nur!“[3]. Das hilft uns, das Zukünftige auf uns Zukommen zu lassen und uns voller Vertrauen und in Gelassenheit weiterhin in Gottes Liebe geborgen zu fühlen.

Anteil an der Macht Gottes
Glaube lässt uns Anteil haben an der Macht Gottes. Jesus schenkt uns die Vollmacht, in seinem Namen zu handeln. Wir kennen das aus der Praxis unserer Gottesdienste:
- Dir sind deine Sünden vergeben
- Nimm hin und iss, nimm hin und trink, Christi Leib, Christi Blut für dich vergossen
- Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes
- Wer unter euch krank ist, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie mit ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten, und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.[4]

Leider habe ich das in unserer St. Paulskirche das bisher nur einmal erlebt, dass wir ganz konkret für einen Kranken unter Nennung seines Namens gebetet haben. Trauen wir uns nicht? Oder fehlt uns dazu der Glaube?

Allmacht Gottes und Ohnmacht
Diese Anteilhabe im Glauben an der Allmacht Gottes, konfrontiert uns mit den Ohnmachtsaussagen Jesu. Der 2001 in Zürich verstorbene Theologe Gerhard Ebeling schreibt: „Wie ein Senfkorn selbstverständlich absolut ohnmächtig ist gegenüber einem Bergmassiv, so sind jene Menschen in den Heilungsgeschichten gleichfalls ohnmächtig gegenüber ganz massiven Realitäten der Krankheit, dem dauerhaften Gebrechen, dem Tod.

Und doch vollzieht sich Glaube in der Begegnung mit dem Menschen. Dort, in der Begegnung beweist er sich, dort, wird er uns zugesprochen, dort, erfahren wir Stärkung und dort, muss er sich bewähren. Unser Glaube ist gefordert, als ganz konkreter Glaube in einer ganz konkreten Situation: „Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen!“[5] Darum ist es möglich, in ganz konkreter Krankheits- oder anderer Not, auch ganz konkret zu bitten und entgegen allem Anschein Gottes Eingreifen zu erwarten.

Liebe Schwestern und Brüder, ich könnte Ihnen so manches erzählen, wo Gott Beter an seiner Macht Anteil haben ließ und den Glauben schenkte, der Veränderung, Heilung und Neuanfang ermöglicht hat. Das sind ganz wunderbare Dinge, wo konkreter Glaube in einer konkreten Situation Heil und Heilung gebracht hat – wo Heilsglaube sichtbar geworden ist.

Ist der Glaube der Schlüssel zu Rechthaberei, Fanatismus und Gewalt
Zum Schluss möchte ich noch eine Frage anschneiden, die in unserer Zeit viele von uns bewegt. Es ist die Frage, ob ein starker Glaube zu Rechthaberei, Fanatismus und Gewalt führt.
Der Glauben, der uns in der Gewalt entgegenschlägt, befremdet, erschreckt uns, mehr noch: er entsetzt uns, und unter uns ist niemand, da bin ich mir sicher, der diese Gewalt billigt und solchen glauben gutheißt. Aber gerade, wo wir so angefasst sind, sind wir auch angefragt: Was ist mit unserem Glauben? Das Christentum predigt doch Versöhnung, aber auch in der Geschichte gab es genauso die Aufforderung zu Kreuzzügen und Verfolgung Andersdenkender. Birgt Glauben die Tendenz zur gewalttätigen Rechthaberei in sich?

Manche sagen ganz unverblümt: Zu viel Glauben schadet, besser kein Glauben. Der Glauben steht im Verdacht, Zwiespalt unter die Menschen zu bringen. In einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" im September 2001 schrieb der portugiesische Literatur-Nobelpreisträger José Sarmago, "ausnahmslos alle Religionen" hätten nie dazu gedient, die "Menschen einander näher zu bringen und den Frieden zu mehren". Vielmehr seien Religionen der "Grund für unendliches Leid, für Massenmorde und ungeheuerliche pysische und psychische Gewalt, die zu den dunkelsten Kapiteln der elenden Geschichte der Menschheit" gehören. Muss glauben zwangsläufig so sein, wie Sarmago es beschreibt?[6]

Die Antwort konnte man in der „Neue Züricher Zeitung“ vom 5. Juli 2006 lesen:
Wenn Religionen gut sind, sind sie es nicht nur für den Gläubigen, sondern ebenso für die Menschen, die mit ihnen zu tun haben. Man muss nicht fromm sein, um gut zu sein, aber umgekehrt gehört zur Frömmigkeit, wie ich sie kennen gelernt habe und definiere, die Güte zwingend dazu. Hartherzigkeit ist niemals gottgefällig. ...[7]

Der Theologe Helmut Gollwitzer hat über diesen Text zu Pfingsten 1940 eine Predigt gehalten. Darin spricht er deutlich aus, was für ihn Glaube ist: Der Senfkornglaube beginnt mit einem inneren Bankrott, mit dem Eingeständnis: „Ausgeschlossen, dass ich es schaffe“, dem Bankrott des Selbstvertrauens und mit der Flucht hin zu Jesus Christus. Der Senfkornglaube sagt Jesus ist nichts anderes, als dass du aussprichst: „Ich glaube nicht an mich, sondern an den Heiligen Geist!“

Zum Schluss
Der Glaube lehrt uns Gott zu vertrauen in allen Dingen. Durch Gottes Heiligen Geist können wir das Geschenk des Glaubens annehmen und auch die Gewissheit, dass Gott es in allen Dingen gut mit uns meint, weil er die Liebe ist. Das mag zwar manchmal ganz anders aussehen, so dass wir voller Verzweiflung dem Zweifel Raum geben. Aber vielleicht kann uns der Glaube dazu verhelfen, dass wir uns trotzdem zum „Dennoch“ durchringen können wie der Beter des 73. Psalms: „Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand. Du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“[8] Wem solcher Glaube geschenkt ist, der ist in allen Dingen in Gott, seinem Herrn, geborgen. Amen.
[1] Carl Friedrich von Weizsäcker, Zeit und Wissen. C 1992, Carl Hanser Verlag, München
[2] 1.Mose 32,27
[3] Mk 5,36
[4] Jakobus 5, 14-15
[5] Mk 10,52
[6] GottesdienstPraxis V. Band 4 Seite21/22 - Gütersloher Verlagshaus
[7] (Navid Kermani: Es ist wichtiger, ein guter Mensch zu sein als ein guter Muslim. Eine Erörterung der Frage: Was ist eine gute Religion? Neue Zürcher Zeitung, 5. Juli 2006)
[8] Psalm 73, 23-26